Stöhnend sehe ich den Regentropfen zu, wie sie nach und nach immer schneller vom grauen Himmel gen Boden tropfen. Es scheint fast Schicksal, dass es heute unbedingt regnen muss. Ebenso, dass meine Augen heute Nacht kaum zugegangen sind und ich jede Zimmerecke neugierig und halb im Delirium betrachtet habe. Müde bin ich nach dem Arbeitstag immer noch, doch ebenso aufgeregt.
Der Rat erwartet mich. Mich, einen niederen Dämon, der nicht einmal die bösen Seelen der Menschen einsammeln darf. Meine Aufgabe ist wesentlich unspektakulärer, als den Menschen direkt nach ihrem Tod zu erklären, dass ihre Waagschale in die falsche Richtung geschwungen ist. Während mein Vorgesetzter, der Teufel höchstpersönlich, diese absonderlich schreckliche Nachricht überbringen darf, dass sie bösen Menschen ihre Sünden in seinem Reich verbüßen dürfen, so ist mein Job wesentlich uninteressanter. Wieder stöhnend sehe ich auf das hohe Gebäude im Hintergrund: Das Verwaltungszentrum der Hölle im Bereich Köln. Morgen würde ich wieder früh aufstehen müssen, um dorthin zu gelangen. Dann würde ich wieder an den ganzen Büros vorbeistapftend in den Keller gehen und mich dort auf meinem Stuhl niederlassen. Neben den ganzen Putzartikeln und Reinigungsgeräten den ersten Kaffee zu mir nehmen und dann vom Erdgeschoss bis hin zum zwanzigsten Stock den immer glänzenden Boden reinigen. Meine Augen lesen die Aufschrift "Müller: Rechtskanzlei und mehr". Unweigerlich zaubert mir das ein Lächeln ins Gesicht. Anwälte sind ja fast so teuflisch wie Lucifer selbst, nicht?
Doch kurz vor Feierabend heute hieß es aber zu mir, ich solle nach unten. Selten war ich in der Hölle, nicht einmal beim Rat, den obersten Dämonen der Hölle. Immer, wenn ein Niederdämon dorthin bestellt wird, kommt er selten im Ganzen wieder zurück. Und wenn man meint, dass Niederdämonen keine Gefühle haben oder sich nicht fürchten: Schief gewickelt. Mein Herz pumpt seit Erreichen der Nachricht die ganze Zeit im Marathonmodus. Und egal, welchen Grund ich mir ausmale oder wie absurd ich ihn mir auch zusammenreime, dass gerade ICH, ein Putzdämon, dort runter sollte: Er hinterließ in mir einen Kloß im Hals. Keiner war besser als der Vorherige. Meine Wichtigkeit in dem Teufelskreislauf gleicht einer übermäßigen Sammlung an Tupperdosen. Sie sind manchmal nützlich, aber platzraubend und an sich nicht einmal schön anzusehen.
Also bleibt mir nichts anderes übrig, als zu warten. Und da mir man keinen direkten Zugang zur Hölle gewährt hat, bin ich auf die alten Mittel angewiesen. Und sind ist nicht schön.
"Der Zug 347 nach Berlin, Abfahrt: 17:34 von Gleis 5, kommt heute 10 Minuten später." Alle neben mir stöhnen auf, ich sinke fast in den Knien ein. Die Spannung raubt mir jeden Nerv und die Muskeln zittern fast vor Aufregung. Ich sehe mich zur Ablenkung um und meine Augen werden groß. So viele Menschen. Sie stehen dicht aneinander gedrängt am Bahnhof und warten wie ich auf das Transportmittel. Wenn auch aus anderen Gründen. Unweigerlich zuckt mein Kopf weiter nach links, als ich eine hellgelbe Jacke sehe. Und halte die Luft an.
Ein Security-Typ drängt sich mit seinem Kollegen durch die Menschenmenge. Mit Schlagstock und Pfefferspray an der Seite sehen die beiden bulligen Typen aus, als suchen sie Stress. Auch das noch. Kaum sage ich mir, es könne nicht schlimmer werden, folgt ihnen noch ein Polizistentrupp von drei Beamten. Alle schauen sich um, sehen grimmig aus und kommen direkt in meine Richtung. Mist.
"Hallo, die Polizei hier. Ihren Ausweis, bitte", sagt der Größte der Polizisten schließlich zu mir. Der Bart macht ihn ein wenig düster, die ausgestreckte Hand zeichnet ihn als Hobbyhandwerker aus. Ein maskuliner Griff umschließt die Waffe an seiner Seite. Hinter ihm schaut eine Frau Mitte Dreißig ein wenig vorsichtiger in meine Richtung, der junge Mann neben ihr, blond und groß, grinst bösartig. Die beiden Security-Typen halten sich noch im Hintergrund.
"Hab keinen", sage ich nur und balle die Fäuste in den Taschen. Alle Menschen drehen sich zu mir um und machen unweigerlich Platz.
"Jaja", meint der Größte nur und stöhnt auf. Er winkt ungeduldig mit der ausgestreckten Hand. "Irgendwas anderes: Führerschein, Ausweise, Dokumente..?" Ich schüttle nur den Kopf. Mein Herzschlag beschleunigt sich, als auch seine beiden Kollegen an die Waffen greifen. Niederdämonen sind so sterblich wie Menschen. Wir behalten nur unsere Erinnerungen nach dem Tod. Bis auf die Geburt eines Dämonen in der Hölle und der anschließenden Verwendungen in der Oberwelt der Menschen gleichen wie uns mit den Wesen wie einem Ei dem anderen. Kugeln tun weh, auch Pfefferspray in den Augen. Ganz zu schweigen von Fäusten im Gesicht. Mit meiner schlaksigen Gestalt könnte ich es nicht einmal mit der Frau aufnehmen. Und meine Nervosität spielt mir nicht gerade zu.
"Wir heißen Sie?", fragt er weiter und ich schlucke nur. Ein kurzer Blick auf die Bahnhofsuhr verrät mir, dass in zwei Minuten der Zug einfährt. Ich darf den Rat nicht warten lassen, sonst sterbe ich zweimal!
Deshalb bin ich so unkreativ und drehe wieder den Kopf in eine, dann in die andere Richtung. Namen haben für Niederdämonen keine Bedeutung. Ich kann ihm wohl schlecht meine Dämonennummer nennen.
"Aha", macht er erneut und schaut kritischer. Eine Minute. Ich spüre bereits den typischen Sog am Gleis. Der Schweiß steht mir auf der Stirn und ich drehe mich leicht zu den Gleisen.
„Schön, hier geblieben!", sagte die Frau und greift nach meiner Schulter. Ihr Griff ist fest, doch ich bin zu schnell.
Kaum fährt der Zug ein, reiße ich mich los und sprinte davon. Die drei Polizisten setzen hinterher und schnappen nach meiner Jacke, doch zu spät. Ich spüre noch den Absatz des Gleises und bin für eine Millisekunde in der Luft, bevor ich im linken Augenwinkel etwas Weißes sehe. Die Spitze des ICE rammt meinen Körper und Schmerz explodiert an der Seite. Atmen ist kaum mehr möglich, als meine Welt im Schwarz versinkt. Ich falle....
...auf den Boden. Hart. Alles ist Dunkel, nichts zu sehen. Ich weiß, dass nur rote Punkte in meinem Umkreis von oben herab mich anschauen. Ich hebe nur träge den Kopf, stöhne kurz auf. Meine erneute Geburt wurde gerade eingeleitet. In anderem Körper. Er ist kleiner und schmächtiger. Ich spüre einen flachen Hintern und ebenso winzige Wölbungen an der Brust. Die Wunden sind sofort verheilt, doch die Schmerzen explodieren immer noch in mir.
"Hallo, Niederdämon 6592. Der Rat ist hier, um über dich zu richten."