Mit schwitzen Händen sah Manuel zu, wie die Finger über die Tastatur glitten. Die Frau vor dem Rechner starrte auf den Bildschirm, hörte auf mit dem Tippen und sah auf das Ergebnis. Welches es war, wusste Manuel nicht. Er wusste nur, wie er angespannt wartete.
„Nun, Herr Jakowsi“, finge die Schreibtischdame an, blickte durch die rundliche Lesebrille, die eigentlich auf ihre Nasenspitze gehörte, mit finsterer Miene auf den jungen Mann hinab. Mit dem blauen Kostüm und der Hochsteckfrisur wollte sie wohl freundlich wirken, aber auf Manuel hatte es eher den Eindruck, als würde im Gericht sitzen. Die Luft war viel zu stickig in dem Großraumbüro, wenngleich die Fenster sperrangelweit offenstanden. Ventilatoren an den Decken sollten wohl die Klimaanlagen ersetzen, doch nichts konnte Manuel von seiner Anspannung lösen. Also hielt er die Luft an und erwartete sein Urteil.
„Ich habe keine guten Neuigkeiten für Sie.“ Augenblicklich fielen die Schultern hinab, als Manuel die Frau anblickte. Wie er mit einer Lederjacke und T-Shirt von einer alten Band dasaß, mit zerschlissenen Jeanshosen und willkürlich gewähltem Schmuck an Hals und Handgelenken. Damit wirkte Manuel mit seinen dreißig Jahren wie ein Mensch, der gerne Prügel austeilte und alkoholisiert und grölend durch die Straße nachts streifte. Doch sein Haar lichtete sich schon, bevor der junge Mann etwas dagegen tun konnte. Manuel war trainiert, wenn sich auch ein Bauch durch den Stoff des T-Shirts zeichnete und sein Gesicht war weder von einer schrägen Nase gezeichnet oder mit Narben überseht. Auch die Tattoos konnten durch Kleidung verdeckt, werden, sodass er nur durch seiner Ausstrahlung nach wie der wirkte, der er nun mal war. Ein Außenseiter der Gesellschaft.
„Ich weiß wirklich nicht, was schiefläuft. Im Vorjahr hatten Sie wenigstens noch die Chance, als Reinigungskraft eingestellt zu werden. Jetzt finde ich allerdings keine Firma, die aktuell Stellen zu bieten hat, die ihrer Anforderung entspricht und ihrem Lebenslauf gerecht wird.“ Die Dame nahm die Brille ab, rieb sich müde über die Augen und stöhnte. Manuel dagegen lehnte sich gegen die Stuhllehne, verschränkte die Arme und wartete ab, was die Dame noch zu sagen hatte.
„Sie haben Talente und ein umfangreiches Wissen, und doch finde ich keinen Job für Sie. Vermutlich liegt es an ihrer Vergangenheit…“, die letzten Worten glichen einem Flüstern, als Manuel auf seine dunkle Zeit angesprochen wurde. Er rückte die aufkommenden Bilder in die hintersten Ecken seines Verstands, nickte und wollte aufstehen. Doch die Dame hielt ihn noch am Arm fest.
„Sind Sie sicher, dass Sie sich damit zufriedengeben können?“, fragte sie, die viel netter war, als es durch ihre äußere Erscheinung den Anschein hatte. Manuel nickte stumm, unterschrieb die Dokumente, nahm die Kopien mit und verließ das Gebäude. Als er draußen war, drehte er sich noch einmal herum, las die Aufschrift „Agentur für Arbeit“ und ging seiner Wege.
Als er am Abend zu Hause angekommen war, stöhnte er, als er das Chaos in der Küche sah. Es war warm, er schwitzte, es war ein anstrengender Tag und er wollte einfach nur noch schlafen. Doch er schüttelte stumm den Kopf, betrachtete das Geschirr und fing an, Wasser in die Spüle laufen zu lassen. Die Dokumente der Agentur legte er beiseite, find an abzuwaschen, als kleine Arme seine Taille berührten.
„Ich hab dich vermisst!“, erschien eine helle Kinderstimme. Manuel drehte sich nicht um, denn er wusste, dass es Hannah war, die ihn begrüßte. Sofort polterten Schritte von mindestens weiteren fünf Kinder auf der Treppe. Die alte Holztür wurde aufgeschwungen und alle Kinder im Alter von vier bis zehn Jahren rannte auf den Mann los. Er hielt sich kaum auf den Beinen, so viel Aufmerksamkeit wurde ihm zu Teil. Zuletzt kam Jonas durch die Tür, der Älteste der Kinder und sah die Papiere auf dem Tisch. Er laß sie und blickte anschließend Manuel stumm an.
Nachdem die Kinder versorgt waren, saß Manuel mit einer Tasse Kaffee im Wohnzimmer und blickte stumm auf die Dokumente. Er lächelte und war zufrieden. Keiner hatte bemerkt, wie sehr der ehemalig Studierte an seinem Lebenslauf herumgeschraubt hatte, sodass er als erbärmlicher Mann durchging, der nicht mal eine Ausbildung absolviert hatte. Die Frau am Schalter hätte aufgrund der damaligen Medienpräsenz eigentlich alles über Manuel wissen sollen, hatte aber nichts gesagt.
Neben ihm ließ sich Jonas aus das Sofa nieder.
„Wieder kein Job?“ Manuel nickte und zeigte auf die Dokumente. „Hab´s schon gelesen.“ Nach einer Weile erhob Jonas wieder die Stimme, diesmal allerdings lauter. Dumm war der Junge nicht. Er hatte Manuel wohl durchschaut.
„Wieso tust du das?“, fragte er vorwurfsvoll. Er wollte mehr sagen, doch es war genug gesagt worden. Obwohl beide schwitzten und es unangenehm roch, umarmte der Ältere den Jüngeren und küsste ihn auf den Scheitel.
„Das Hartz IV reicht doch nicht mal für dich!“, murmelte Jonas in die Schultern und krallte sich in den Stoff des T-Shirts. Manuels Magen knurrte unpassend an der Stelle. Doch er ignorierte es und strich sanft über die blonden Locken des Jungen.
„Und…und...du hungerst regelmäßig, nur damit wir was zu essen haben!“ Ein Schluchzen erklang, Jonas Tränen sammelte sich in den Augen, bis sie schwer über den blassen Wangen liefen. „Und wenn du uns rausschmeißen würdest, wie unsere Eltern, dann…“, sofort schloss die große Hand Manuels um die Lippen des Fünfzehnjährigen. Er verstummte, sah den Älteren an. Während die Tränen weiterliefen, schüttelte Manuel einfach nur den Kopf. Dann nahm er seine Hände und formte Worte in Gebärdensprache.
„Ich muss nicht Geld haben, um glücklich zu sein.“ Jonas verstand, nickte aber nicht. Er war derjenige, der das Sorgenkind der bunten Familie war, dessen Mitglieder sich alle vom Aussehen unterschieden. Während Jonas blond war, hatte Hannah ein asiatisches Aussehen. Manche warne Rothaarig, andere hatten dunkle Haut. Und doch hatten Manuel sie alle aufgenommen, als er sie auf der Straße gefunden hatte.
„Tust du das, weil du selbst auf die Straße gesetzt wurdest? Oder weil man dich…?“, sein Finger zeigte auf die Narbe an Manuels Hals, die deutlich hervorstach. Manuels erwiderte nichts. Seine Vergangenheit war passe, seine Jugend vorbei. Und würde er eine Arbeit aufnehmen, würde er zwar mehr Geld verdienen, aber keine Zeit für die Kinder haben, die aus ihm zu einem besseren Menschen machten. Er hätte keine Zeit für sie. Seine Eltern hatten es nicht geschafft, ein glückliches Kind aus ihm zu machen. So auch die Eltern dieser Kinder. Sie brauchten daher eine Person, die ihnen zeigte, dass es auch ohne Gewalt und Erniedrigung ging. Dass man alles schaffen konnte, dass sie Selbstvertrauen aufbauten und ausgelassen lachen konnten.
Manuel zeigte vier Worte, als Joans sich wieder schluchzend in seine Arme warf.
„Weil ich Euch liebe.“