Finn tauschte einen Blick mit Jacky. Die Nervosität beider junger Menschen waren ihnen an den Nasenspitzen anzusehen. Schließlich stand ein wahrhaftiger König vor ihnen, der den Blick finster auf die Neuankömmlinge gerichtet hatte. Mit fellbesetztem Umhang, der bei jeder Bewegung wie von Geisterhand mystisch hinter ihm schwebte, stand er in dem Durchgang von Bibliothek und Schlosshof. Eigentlich hielten sich hier nur Gelehrte und Diener auf, selten die Professoren selbst. Die hatten ihre eigene Büchersammlung weiter südlich. Noch seltener Angehörige des Ritterordens, was wollten die auch mit Büchern anfangen? Finn hatte bisher keinen Schwertkämpfer hier erlebt, der ein besserer Hutaufsteller hätte sein können.
Es gab kaum Platz zwischen den Tischen und Stühlen, Reihen von Bücherregalen und gehetzten Dienern. Jacky und er hatten auf einem der harten Holzstühle gesessen und versucht, die Sprache in ihre Köpfe zu bekommen, der Schrift einer Logik zu geben und somit sich so gut es ging in ihrer Zeit hier zu integrieren, als der König aufgetaucht war. Wie immer es mit plötzlichem Auftauchen von Fremden und einer magischen Welt war: Man musste wissen, wie man hier lebte, wie man sprach. Einen anderen Weg sahen die beiden nicht. Man hatte sie beinahe herzlich willkommen geheißen, in die Gemächer auf dem Schlossgelände geführt, ihnen eine Perspektive gegeben. Regelmäßige Mahlzeiten und einfache Arbeiten standen an der Tagesordnung. Nicht aus reiner Herzensgüte, dass hatten die beiden Jugendlichen verstanden. Sie mussten arbeiten, damit sie essen konnten. Ein fairer Tausch.
An ihren freien Tagen quetschten sich die beiden an einer Vielzahl an neugierigen Lesern vorbei und suchten sich einen einigermaßen ruhigen Ort, um in dem sonnendurchfluteten Durchgang an Kinderbüchern ihre Kenntnisse zu testen. Die beiden machten einen kleinen Wettbewerb daraus und spornten sich gegenseitig an, schnellstmöglich besser zu werden.
Bis an einem dieser freien Tage der König in dem breiten Durchgang stand. Der einzige Ort, an dem Platz war, entstand eine plötzliche gähnende Leere. Finn und Jacky wussten auch nur, dass es der König war, weil ihn die mattgoldene Krone und das majestätische Auftreten ihn eindeutig als Machthaber kennzeichneten. Ohne wirklich zu wissen, wie die richtige Etikette war, fielen sie von den Stühlen und knieten vor dem Monarchen nieder. Bei dem Blick gen Boden hatte Finn noch die schwarzen Punkte auf der Krone bemerkt, in denen sich etwas träge bewegte. Wie Nebel am frühen Morgen, nur düsterer. Jacky war ebenso nervös wie er, denn jetzt trafen sich ihre vor Angst geweiteten Augen.
Es war immerhin der erste Kontakt mit seiner Majestät. Und sie beherrschten die Sprache nicht richtig. Mit zusammengeballten Fäusten suchte Finn in seinem Kopf die passenden Worte der wohl bedachten Begrüßung. Musste man Lob und Anerkennung aussprechen? Sollte er sich bedanken? Wie lange waren die beiden bereits in dieser Welt?
„Meine Kinder“, ertönte eine tiefe Bassstimme in ihren Köpfen. Jacky zuckte zusammen, während bei Finn der Schweiß austrat. Na klasse, ein Telepath. Wie er wusste, war diese Ansprache keine Andeutung auf eine familiäre Beziehung, sondern eine formelle Anrede von einer Person, die in der Hierarchie über einem Stand und eine Verantwortung innehatte. Jeder wurde von dem König als sein Kind bezeichnet.
„Von weit her und tüchtig, wie ich sehe.“ Er deutete auf die offenen Bücher. Die dabei ausgestreckte Hand glich die eines Toten, dachte Finn. So blass und beinahe hätte man meinen können, er trüge einen Handschuh. Der König hielt in seiner Ansprache inne. Sofort bereute Finn seine Gedanken, als er ehrerbietig tausende Entschuldigungen in seinem Kopf herunterratterte. Jacky musste Ähnliches gedacht haben, als sie keuchend den Atem ausstieß.
Die Stille zog sich wie Kaugummi. Allmählich taten die Knie weh, doch keiner sagte einen Ton. Finn hörte noch ein kurzes Rascheln, als plötzlich ein Beutel vor ihre Augen geschmissen wurde. Sofort erkannten die Geschwister ihre große Umhängetasche, aus der zwei Äpfel herausrollten. Der Erdbeerjoghurt floss bereits aus der Öffnung, wohl durch den Wurf kaputt gegangen. Verwirrt starrten sich Jacky und er an, als es hieß: „Erklärt euch.“
Jacky versuchte, die Worte zu finden und brabbelte: „Lebensmittel. Unsere.“ Der König runzelte wütend die Stirn. Er wusste, was das war. Das konnte Finn in der blassen Miene ablesen. Die scharfen Züge verfinsterten die schwarz umrandeten Augen, die nun ihn auffordernd musterten. Der König war ein Telepath, als versuchte Finn es mit Gedanken. Er formte das Bild, als die beiden im Supermarkt ihre Lebensmittel eingekauft hatten. Die halbgefüllte Tasche war mit allerlei Lebensmitteln gefüllt gewesen, die man eben so brauchte. Joghurt in Plastikbechern war hier ebenso unbekannt wie das Eis, nach dem Jacky in dem Moment gegriffen hatte, als es geschah. Kaum zwei Sekunden später waren die Geschwister auf einem Acker gelandet. In dieser Welt.
Der König hob den Blick, als Finn den kleinen Film immer wieder im Kopf abspielte. Schließlich nickte er.
„Was ist das?“, fragte er plötzlich und holte hinter seinem Rücken eine große Knolle Ingwer hervor. Das gelbe Fruchtfleisch troff voller Saft, als der König herzlich hineinbiss. Mit offenem Mund starrte Finn ihn an, als er genüsslich einen weiteren Bissen nahm und leicht lächelte. Nach Jackys erhobenen Augenbrauen und geweiteten Augen nach hatte sie diese Frage auch nicht kommen sehen.
„Eine Ingwerknolle“, antwortete Jacky in ihrer eigenen Sprache und versuchte zu zeigen, dass man daraus eigentlich Tee machte. Aber sie nicht roh aß. Doch das war dem König egal. Er aß die Frucht auf, bis er sich den Bauch streichelte. Bereits der strenge Duft ließ Finn die Tränen in die Augen steigen. Der König dagegen machte keine Anstalten, dass das Brennen ihm Schmerzen bereitete.
„Ich will mehr!“, hauchte seine Majestät mit Ingweratem in ihre Richtung. Sicherlich hatte der König die zweite Knolle bereits gefuttert, dachte sich Finn und musste spontan an ihren Einkauf denken. An das Tüteneis mit Erdbeergeschmack und darunter Pistazieneis. Umrandet mit Himbeersoße sah die Süßigkeit so schmackhaft aus wie das Objekt, das plötzlich in den Händen des Königs auftauchte.
„Jaaaa…“, kam es hervor. Eher ein Krächzen, als ein freudiger Ausruf. Dennoch, der König ignorierte die Beiden und biss ebenfalls ohne zu Zögern hinein. Finn bewunderte seine Resistenz gegen Kälte und Schärfe, vermied jeglichen Gedanken, der ihm das ganze hier erklären konnte und sah zu, wie das Eis in drei Sekunden verschwand. Wohl noch im totalen Zuckerrausch verformte sich in einer Sekunde ein weiteres Eis in den Händen des Königs, der auch das Zweite in Nullkommanichts verschlang.
Nach dem fünften Eis schien der Machthaber zufrieden. Er hob den Blick, starrte auf die beiden nieder und sagte: „Meine neuen Köche.“
Damit schwang der König mit einem sechsten Eis in der Hand von dannen und ließ zwei verwirrte, nun zu Köchen auserkorenen Jugendliche auf den Gang zurück, während der ausgelaufene Joghurt in der Sonne schlecht wurde.