"Alter Ego"
Person, mit der jemand eng verbunden, häufig zusammen ist, sich ergänzt
Der Spiegel im Raum schien mich zu verhöhnen. Wie alles, was ich sah. Der Bauch, der sich über die neue Hose spannte und das T-Shirt, das ich bereits seit zwei Jahren besaß. Die Band kreischte ins Mikro und setzte eine dramatische Pose ein, während ich in der Kabine stand und mich mit meinem Spiegelbild auseinandersetzte.
„Hasi, bist du fertig?“, trällerte Betty vor dem roten Vorhang. Ich nickte nur und bemerkte spät, dass sie mich nicht sehen konnte. Doch mein Schweigen oder das erzeugte Gemurmel überzeugte Betty, nicht weiterzufragen und in die Kabine zu huschen. Sie erkannte mit Kaubewegungen im Mund, dass mir der Hosenladen offenstand und ich mit Drücken und Pressen selbst dann nicht in die Hose kommen könnte, wenn ich gefühlt zehn Kilo leichter wäre. Betty kam näher und nickte zustimmend.
„Wir sollten glaube ich in den Laden nebenan gehen“, schlug sie vor und lächelte mein Spiegelbild an. Ich runzelte die Stirn und legte den Kopf schräg.
„Wieso?“, fragte ich und schälte mich vorsichtig aus der Hose. Sollte ich doch Röcke tragen. Frauen hatten es echt leichter, wenn es um Sommermode ging. Einfach einen Vorhang um die Taille oder ein Hauch von Nichts um die Beine. Etwas Kleister ins Gesicht und man erkannte selbst die eigene Frau nach dreißig Jahren Ehe nicht wieder.
Betty schmunzelte, als wüsste sie, was ich dachte. Auch wenn Tigermuster out waren, stand es ihr gut und durch das selbstbewusste Auftreten konnte sie mit der blauen Schminke überzeugen.
„Das passiert eben, wenn man mit dem Rauchen aufhört“, gab sie zu Bedenken. „Man kann zunehmen. Aber, Hasi, sieh es mal so. Du hast es seit drei Wochen geschafft, keine Kippe anzuzünden und von dem ekligen E-Zeugs hälst du dich fern. Dein Sport ist einmal die Woche und auch dein Puls ist niedriger geworden. Was willst du denn noch? Es braucht eben Zeit.“ Ihre blonden Haare wippten bei der Bewegung mit, als sie schwunghaft anfing, in der Kabine zu tanzen und die Hüften zu bewegen. Zu einem Lied, das wohl im Radio kam und sich plötzlich in ihrem Kopf abspielte. Ihre gute Laune hätte ich gerne. Leider schlug sie nicht auf mich über. Auch die Zweifel standen in den Furchen auf meiner Stirn.
„Ja, aber sieh mich an. Ich bin ein...“ Sofort drang ein Zischen durch den Raum. Ich verstummte sofort.
Betty zog die Augenbrauen hoch. „Wag es nicht, Hasi!“ Den Zeigefinger auf mich deutend und die Augenbrauen bis zum Anschlag nach oben gezogen wurden ihre Augen größer, als würde ich ein Gebot brechen. Sie verbot es mir, mich über mich selbst aufzuregen oder mich schlecht zu machen. Und wenn ich es tat, musste ich ihr etwas kaufen. Und da ich keine Goldklumpen im Garten vergraben hatte, hielt ich mich an den Deal. Denn es half ja. Gezwungenermaßen. Weil mein Geldbeutel nach der zweiten Woche wesentlich leerer war als vor dem Gewichtsabnahmeprozedere.
Betty grinste siegessicher, als ich nach ein paar Minuten grummelte und mich um die Jeans zwei Nummern größer kümmerte. Die passte. Ich freute mich, doch gleichzeitig zeigte es mir auf, wie lang mein Weg noch war. Betty gab mir ein Küsschen und zog mich zur Kasse. Dann aus dem Laden. Ich wollte nie wieder Kleider kaufen.
Nie wieder.
„Also, in den Laden nebenan?“, fragte sie glücklich und grinste breit.
„Noch eine Hose?“ Meine Stimme klang wehleidiger als ein Kleinkind, das einen Mittagsschlaf machen musste. Stumm zeigte Betty in Richtung Norden.
Das unbeleuchtete Schild mit dem Restaurant prangte zwischen zwei größeren Läden. Ich hätte es beinahe übersehen.
„Hunger?“, fragte ich sie.
„Nö, aber wenn du ein Bier hast, bist du nicht so wehleidig.“ Sie zuckte mit den Schultern. Ich sah ihr verdutzt nach.
Und grinste.
Wenn ich der Miesepeter war, dann war Betty mein Optimist. Und wenn ich keine Motivation hatte, so war Betty doch meine!