Während die Schneeflocken sanft über die Lande zogen und die nassen Wiese weiß bedeckten, zog sich Yesim automatisch bei dem Anblick den Schal enger um ihren schlanken Leib. Die Baumwolle kratzte ein wenig an ihrer Haut, doch dieses Gefühl war nichts im Vergleich zu ihrer aufsteigenden Nervosität, die sie seit dem Morgen verspürte. Es war mehr ein Unbehagen, ein "Was könnte aus dem Tag werden?"-Gefühl. Diese Unwissenheit kompensierte die Dreißigjährige mit einem Cappuccino in einem größeren Cafe, dessen zweiten Stock sie nun im Blick hatte, würde sie ihren Kopf rechtsdrehen. Aufgrund der strengen Richtlinien der Politik durfte sie sich als nun Vollgeimpfte einem Croissant mitsamt Schokoladenüberzug und leckerem Kaffee-Milch-Genuss hingeben. Die goldene Armbanduhr zeigte zehn Uhr an.
Ob Sunny wohl kommen würde? Ihre alte Schuldfreundin hatte sie seit Beginn der Pandemie nicht mehr gesehen. Und auch die Instagram-Storys sagten nicht viel über ihr Leben aus. Aus Langeweile zog die Schwarzhaarige ihr Handy heraus und überflog einzelne gestellte Bilder eines tollen Influencers sowie ein paar Funfacts über das Leben und die Liebe. Während sie mehr an Sunny dachte bis hin zu dem spontanen Treffen und der aufblühenden Kommunikation ihrerseits, hielt Yesim kurz inne und sah ein bekanntes Gesicht. Mit dem Daumen stoppte sie das stumme Video und erkannte ihren Ex-Freund Christopher, wie er durch Trainingseinheiten und verschwitztem Körper eigentlich sexy wirken wollte. Doch Yesim kannte seinen miserablen Charakter. Irgendeine Werbung für ein Nahrungsergänzungsmittel wurde in der Kamera gezeigt, während Christopher mit einem strahlend gespielten Lächeln die Zuschauer manipulierte Während beim Loslassen des Displays sofort das nächste Bild angezeigt wurde, hielt Yesim erneut inne. Die nächsten Aufnahmen zeigten einen schmalen älteren Gelehrten, dessen schwere Brille in der Sonne funkelte. Er schien am Strand im Urlaub zu sein.
Yesim hob den Kopf und sah durch die Schneeverwehungen auf das gegenüberliegende Haus. Der Blick des Gelehrten ließ sie nicht los. War das ihre letzte Beziehung gewesen? Nein. Im Geiste zählte sie ihre sechs erfolglosen Beziehungen. Davon waren zwei Ehen ebenso erfolglos verlaufen, daher blieb sie kinderlos. Liebe war wohl nicht ihr Ding. Nun genoss sie das Singledasein. Oder musste es genießen.
Man hörte klackernde Schritte, ein Schnaufen und sofort sah man einen blonden Schopf die Treppen hochsteigen. Yesim hob die Augenbrauen, als Sunny die pinken Strähnen durch das Wasserstoffblond erblickte. Die bunten Gewänder um ihre Schultern wären wohl eher Teppiche als wirkliche Kleider und das schillernde Klimpern der Paietten sorgte für genug Aufmerksamkeit, um alle Anwesenden aus der morgendlichen Sonntagsträgheit zu ziehen. Wie ein strahlender Sonnengruß tanzte die Gleichartige mit ebenso herzerwärmenden Lächeln auf Yesim zu. Die Arme nach außen gestreckt umarmte sie ihre alte Freundin, als hätten sie sich Jahre nicht gesehen.
Erst jetzt erkannte Yesim, wie die blauen Augen Sunnys mit paradiesvogelähnlicher Hingabe zu geschminkt wurden. Die Lippen wiederum verzogen sich wieder zu einem Auflachen und sofort schlug Yesim kalter Zigarettengeruch in die Nase. Unwillkürlich hielt sie die Luft an, bot freundlicherweise den Stuhl gegenüber an und Sunny setzte sich ohne Widerworte.
Der Gesprächsverlauf fing nach dem Bestellen Sunnys ein wenig unbeholfen an, doch die Aufgeweckte störte sich nicht daran. Das war eben ihr Gemüt. Von jetzt auf gleich winkte Sunny mit den bunt lackierten Fingernägeln und zeigte auf Yesim, während diese ihren Kaffee ansetzte und an dem Kaffee nippte.
"Du hast aber ganz schön abgenommen, oder?" Die Frage kam vollkommen beiläufig rüber. Zuvor wurden Themen wie privates Umfeld und Gemütszustand wegen der Coronapolitik diskutiert. So plötzliche Wechsel der Gesprächsthemen verwirrten Yesim. Ein wenig zögerlicher antwortete sie daher: "Ja, Diäten und so..." Der Magenbypass musste nicht extra erwähnt werden. Und auch wollte sie nicht an die alten Zeiten ihres alten Ichs denken. Es war schrecklich gewesen.
"Und dein neuer Job? Stewardess, oder?" Wieder ein abrupter Wechsel.
"Ich bin Luftsicherheitsassistentin, Sunny."
"Ah, klingt sehr...antreibend", der Kopf hob sich, aber sie verstand nichts. Die blumige Ausdrucksweise der Frau, die eigentlich Roslie Sunshine Wolke hieß, übertrug sich heute nicht auf den düsteren und eher ruhigeren Charakter Yesims. Die Schwarzhaarige hatte sich in den letzten Jahren zu sehr in sich zurückgezogen, als dass kleine Dinge wie alte Freunde sehen sie noch erheiterten. Entgegen allen Erwartungen sorgte sie sich dennoch um ihr soziales Leben, also hielt sie solchen Kontakt generell aufrecht, bevor man ihr Depression oder dergleichen nachweisen wollte.
"Ja, es ist spannend", pflichtete Yesim in Plauderton bei, obwohl sie nach und nach das Gefühl hatte, dass sie eigentlich auch hätte zu Hause hätte bleiben können.
"Und Max, dein neuer Freund?" Max war Beziehung vier gewesen. Ein ruhiger Typ Mann mit einem Drang zur Natur. Der Freigeist hatte sich von Yesim zu sehr eingeschränkt gefühlt, wodurch die Trennung nach drei Monaten bekannt gegeben wurde. Ein zaghaftes, aber auch angespanntes Lächeln stahl sich auf Yesims Gesicht.
"Er ist im Ausland", sagte sie nur und wollte der elenden Fragerunde entkommen. Doch Sunny hörte mit ihrer Neugier nicht auf. Statt über sich etwas zu erzählen, das vermutlich in Richtung Esoterik und dergleichen gehen könnte, holte sie eine Information nach der anderen aus ihrem Gegenüber. Yesim störte sich nicht daran, denn sie sagte nur beiläufige Antworten, die nur teilweise stimmten. Sie fragte nicht nach Sunnys Leben. Das hätte sie ebenso wenig interessiert wie ihre alten Beziehungen.
"Und…wie steht´s so mit Kindern?"
"Ich habe keine." Bedeutend laut wurde die Tasse auf der Untertasse abgestellt.
"Achso, also meine Zwei sind vier und sechs." Sofort zog Sunny aus dem alten Geldbeutel, der irgendwie komisch aussah, ein Foto von sich und Zwillingen heraus. Ein grünäugiges Mädchen mit Blumenkranz auf dem Kopf lachte in die Kamera, während das schüchterne Lächeln eines weiteren Kindes zur Seite blickte.
"Das sind Daisy-Chakra Eva und daneben mein Junge Jaco-Ocean Quentin."
Die Blondine lächelte, als trüge sie die Sonne im Herzen und verlor sich in dem Bild ihrer Familie, während Yesim sich zu einem ebenso erheiternden Ausdruck zwang. Allein bei Yesims Name zog es ihr die Fingernägel hoch. Weil sie an Weihnachten geborgen war, wurde sie mit dem Zweitname Angel gesegnet. Bei Sunnys Namensgebung hatte sie ihre Eltern schon nicht verstanden und hatte gehofft, dass diese Tradition seltsamer Namen nicht fortgesetzt wurde. Wie würde Sunnys Mann denn heißen? Earth-Soul Vinshu?
Gedankenverloren blickte Yesim daher in die Natur und verfolgte einige Tropfen gefrorenen Wassers auf der Scheibe. Dann erblickte sie das rettende Schild.
"Ich muss mal kurz", entschuldigte sie sich ein wenig zu eilig und rannte schier auf die Toilette zu, als sie am Waschbecken in ihr eigenes Spiegelbild schaute.
"Was hast du dir da wieder einbrockt?"
Sofort holte ein Geräusch sie aus ihren Gedanken, als sie das Handy hervorzog und die Stirn runzelte. Unterdrückte Nummer? Sie nahm den Anruf an.
"Hallo?"
"Yesim, Gott sei Dank", hechelte eine männliche Stimme in den Hörer. Sie selbst blinzelte, hörte ihre Stimme ein wenig hallen und überlegte. Wieso rief Max sie an?
"Ich stecke in Schwierigkeiten. Du musst mir helfen!"