Liebe Leser*Innen,
das ist meine Geschichte, die ich dank der Gruppe "Weihnachtswichtelakion* schreiben durfte. Mein Wichtelkind war hierbei Laurus Larssen (https://belletristica.com/en/users/1189-laurus-larssen#profile)
Die gewünschten Stichworte waren: Überraschung, Plätzchen und Verlaufen mit dem Genre Fantasy. Ich hoffe, sie gefällt dir, Laurus. ^^
Damit also viel Spaß beim Lesen einer verzauberten Weihnachtsgeschichte zweier Kinder, die inmitten von Nichts doch Alles gefunden zu haben scheinen.
Besinnliche Weihnachten 2020 und ein Frohes Neues Jahr !
LG BReady
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Ich sah mich um und befeuchtete die trockenen Lippen, dessen Risse sofort wehtaten. Ich berührte die spröde Haut und zuckte bei der Berührung zusammen.
„Lass das, Henry!“, warnte mich eine niedliche Stimme neben mir. Es war Lilly, meine kleine Schwester. Sie sah mich böse an, weil ich wieder meine Verletzungen berührte, obwohl ich das nicht sollte. Stöhnend nickte ich und sah einen Mann vorbeispazieren. Der lange Mantel wehte umher, weil er sich schnell bewegte. Der Anblick war ermüdend. So auch der eisige Wind, der durch die Gassen Londons schlich und in jede Pore unseren viel zu dünnen Kleider drängte. Wir zitterten und setzen uns dichter zusammen.
„Mir ist kalt, Henry!“, flüsterte Lilly und zog an dem Leinentuch, das ich mir um die Schultern geworfen hatte. Ich zog es aus, breitete es aus und lege es über ihren Leib. Sie lächelte dankbar und ihre Lider wurden schwerer.
„Erzähl mir eine Geschichte!“, bat sie mich und ich dachte nach. Meine Augen fixierten die Wand gegenüber, in welchem ein Fenster eingelassen war. Drinnen sah man einen Mann lachen und den Kaminofen, der sicher Wärme ausstrahlte. Wie sehr ich mich nach solch einer Wärme sehnte, war unaussprechlich. Ich zog Lilly mehr an mich heran, mehr um ihr Wärme zu spenden, als mir. Doch sie machte ein angenehmes Geräusch und ich strich ihr über die verfilzten Haare.
Wir beide waren Waisenkinder, sie nicht älter als sechs, ich war dreizehn. Unsere Eltern starben irgendwann und so landeten wir auf der Straße. Wir hatten nur uns beide und das war mir genug. Solange ich Lilly hatte, versuchte ich meine Aufgabe als großen Bruder zu erfüllen und ihr ein schönes, wenn auch einfaches Leben, zu ermöglichen.
„Es war einmal ein junger starker Mann“, begann ich und dachte an den Mann, den ich durch das Fenster sah. Ich malte mir gedanklich aus, was für ein Held er sein könnte und dachte nicht nach, als ich meine Erzählung fortsetzte.
„Es war ein Ritter, ein tollkühner Recke, der sich um die Armen und Schwachen kümmerte. Er war groß und stark und unglaublich schnell. Eines Tages zog er durch die Straßen Londons, in der Hand die Zügel eines Pferdes, das schnaubend einen Karren hinter sich herzog.“
„Und was war da drin?“, nuschelte sie, wohl grade beim Einschlafen. Ich grinste und strich ihren Kopf weiterhin. Wenn sie einschlafen würde, konnte ich mich um etwas zu Essen bemühen. Genau zu diesem Zeitpunkt knurrte mein Magen, wenn auch leiser als zuvor. Mein Körper hatte sich daran gewöhnt, nicht viel zu bekommen.
„Alles, was du dir vorstellen kannst, Lilly! Alle Leckereien dieser Welt, glitzernde und glänzenden Dinge, ein warmes Bett. Und wenn man ihn anlächelt und fragt, darf man sich sogar etwas aussuchen.“
„Du redest von einem einfachen Händler, Ritter beschützen einen!“, protestierte ihre piepsige Stimme. Ich schüttelte den Kopf. „Mitnichten. Denn der Ritter war kein Händler. Es war ein Fremder aus einer fremden Welt, in welcher Magie existiert.“
In ihren Augen glänzte Überraschung auf, die die Skepsis beiseiteschob. „Magie? Etwa, wie Flieger, die von allein fliegen…oder ganz viel Essen, das auf Wunsch auftaucht? Und Puppen, die sprechen? Ganz viel zu spielen, dass man keine Sorgen mehr hat?“, sie konnte gar nicht aufhören, Dinge aufzuzählen. Ich nicke bei jeder weiteren Aussage. Ich strich ihr über den Kopf, als sie lächelte und wieder ihren Kopf auf meinen Schoß legte.
„Und wenn ein wirkliches Leiden hat und nicht mehr weiterweiß, vollbringt er sogar Wunder“, flüsterte ich, mehr zu mir selbst zu als meiner Schwester. Es dauerte ein wenig, bis sie einschlief, manchmal von unvorstellbaren Dingen murmelte. Ihre Schultern hoben und senkten sich nach zehn Minuten und ich strich ihr lächelnd über den Kopf. Auch wenn Lilly unsere Mutter nicht mehr kannte, weil Mutter bei Lillys Geburt von uns gegangen war, so erzählte sie mir diese Geschichte immer.
Langsam erhob ich mich, streckte meine müden, auch durch die starre Kälte tauben Glieder und stand auf. Ich achtete sorgsam darauf, dass Lilly nicht aufwachte. Ich hob sie hoch und trug sie in eine naheliegende Gasse, welche wir seit drei Tagen bewohnten und legte sie in eine Ecke, in der Hoffnung, dass der kalte Wind sie nicht erreichen würde und zog das Leinentuch über die Schultern. Durch meinen Kuss, den ich ihr auf die Stirn hauchte, wachte sie auf, hielt ihre Augen jedoch geschlossen.
„Henry?“, fragte sie nuschelnd. Ich spannte mich an und schaute zu ihr herunter. „Ja?“ Es brauchte ein paar Atemzüge, bis sie antwortete. „Ich habe dich lieb“, und dann fiel sie wieder in einen tiefen Schlaf. Ich musste lächeln, strich ihr noch ein paar Mal über den Kopf und stand auf.
Lilly musste nicht wissen, dass ich stehlen musste. Sie dachte bisher immer, dass ich all das Essen gefunden habe. Es war riskant, doch kurz vor der Weihnachtszeit waren hoffentlich viele Menschen unterwegs. Und durch die Massen am Markt hatte ich es zuvor oft geschafft, genügend zu stehlen, dass es für beide reichen. Doch nun waren unsere Vorräte aufgebraucht und ich musste Nachschub besorgen.
Ich schlich mich auf die Straße zurück. Ich sah noch die Stelle, auf welcher wir zuvor gelegen haben und die nun von einer leichten Schneedecke bedeckt war. Ich ignorierte den Wunsch, bei meiner Schwester zu bleiben und sie zu schützen. Sie würde gehorsam dortbleiben, bis ich da war. Bei Gefahr würde sie weglaufen und wir würden uns wiederfinden. Das wusste ich, aber dennoch schlich sich jedes Mal, wenn ich sie allein lassen musste, ein Gedanke in meinen Kopf und ließ mein Herz rasen vor Sorge und Panik. Was, wenn sie einfror, oder gar verhungerte? Ich konnte Tage lang nichts essen, doch Lilly musste wachsen, sie war noch viel zu klein. In diesem Moment zog sich mein Magen schmerzhaft zusammen und ich musste anhalten. Schwindel überkam mich und langsam wurden meine Schritte schwer.
Ich atmete hektischer die Nebelschwaden in die Luft, als ein Schneesturm aufkam und mich vollends in seiner Kälte willkommen hieß. Ich schaute auf. Sorge wallte sich in mir auf. Keiner würde bei dieser Kälte draußen sein und etwas kaufen, doch sammelte ich meine letzten Kräfte und lief in Richtung des Marktplatzes, meine Schritte verräterisch auf dem Schnee bedeckten Boden.
Dort angekommen musste ich innehalten. Der Geruch von frisch gebackenem erfüllte die Umgebung und ich sah einen Stand direkt gegenüber, welcher gerade Plätzchen mit weißem Zuckerguss auf den Tresen verteilte. Ich hatte kein Geld, doch Lilly würde sich sicher über eine solche Leckerei freuen. Mit Entschlossenheit und knurrendem Magen und leichtem Schwindel stand ich auf und ging über den Markt. Ich hielt mich stets so fern, dass mich die Verkäufer nicht sahen. Natürlich wussten alle Händler, dass herumstreunende Kinder und Diebe unterwegs waren. Der Schneesturm sorgte dafür, dass man keine hundert Meter vor sich sehen konnte und trug alle Gerüche beiseite. Einen Vorteil, den ich ausnutzen musste. Doch auch wurde mir von Minute zu Minute kälter und meine Kräfte würden mich verlassen, wenn ich zu lange brauchen würde. Während ich ging und schaute, betrachtete ich den Platz. Dunkle Hausmauern sowie die Rathausuhr verrieten mir, dass es Mittag war. Ein Geklapper zu meiner Rechten ließ mich zusammenfahren, als ich die Gestalten erkannte. Metallische Geräusche, schweres Schnauben. Oh nein!
„Wir werden dieses Jahr hoffentlich nicht so viele hängen müssen!“, knurrte ein Wachmann. Ich hatte mich nahe einer Hausmauer gehalten, zwischen zwei weit auseinander stehenden Ständen, und hörte den beiden Wachmännern weiter zu, die gelangweilt miteinander sprachen. Der Wind pfiff um die Ohren, doch ich konnte verstehen, was sie sagten. Gleichzeitig wägte ich meine Chancen ab, zu stehlen oder es lieber sein zu lassen.
„Ja“, hauchte einer erschöpft und lehnte sich an die Wand. „Ich habe keine Lust, die ganzen Diebe und sonstiges Gesindel in die Schranken weisen zu müssen. Es ist Weihnachten, wieso können die nicht einmal aufhören, zu stehlen? Ich meine, das ist doch ein Fest der Liebe und kein kostenloses Festmahl.“
Ich ging ein paar Schritte weiter und ignorierte weiteres Gerede der Stadtwache. Würden sie mich erwischen, würde ich mich nicht mehr um Lilly kümmern könnten.
Sodann, dachte ich und nahm all meinen Mut zusammen. Geschickt war ich nicht, aber irgendwie würde ich schon was auftreiben.
Ich schaute mich um, wägte meine Opfer ab. Direkt in die Tasche zu greifen wäre zu riskant, also musste ich vom Stand stehlen. Wieder kam mir der Stand mit Keksen in den Sinn und irgendwie verschlug es mich dort hin. Ich sah beim Näherkommen immer klarer Spitzbuben, Vanillekipferl, warme Krapfen und weitere Süßigkeiten hinter der Verglasung. Mein Magen zog sich zusammen. Ich kam immer näher, bis mich die harsche Stimme des Bäckers in die Realität zurückholte.
„Hey, Bub! Kauf oder gehe! Ich kann keine verlausten Jungs gebrauchen, die nichts kaufen wollen!“ Ich zuckte zusammen bei der Stimme, doch nickte nur. Mein Verstand wollte, dass ich ging. Doch meine Augen wurden größer, je mehr der Bäcker an Waren präsentierte. Es glich einem Palast, und mein Verstand setzte aus. Neben mir kam ein Mann und bestellte etwas. Je länger ich dort stand, desto mehr wollten meine Hände durch das Glas greifen und den Magen füllen. Zustimmend murrte dieser. Ich hielt den Atem an. Der Mann neben mir hielt Abstand und ich hörte im Hintergrund laute Stimmen, wusste aber nicht woher diese kamen. Ich konzertierte mich nicht mehr, sah nur noch einen Tisch in einem warmen Wohnzimmer, Kaminfeuer, Lilly und Vater, beide lachend. Ein Weihnachtsbaum im Hintergrund. Schnee und beschlagene Scheiben an dem Fenster. Ein Bild aus längst vergangener Zeit.
„Hey, Junge!“, schrie der Bäcker, als er die Bestellung auf die Tresen stellte. „Haust du endlich …“, wollte er noch brüllen. Doch meine Hände waren schneller. Ich griff die Tasche mit den frisch gebackenen Plätzchen, die sich der Mann neben mir bestellt hatte. Ich machte auf dem Absatz kehrt und rannte, so schnell ich konnte, weg vom Markte und in eine leere Gasse. Hinter mir ertönte ein Geschrei, ich hörte die Wachen mir nachpfeifen. Es war zu spät. Mein Verstand schrie entgegen, wie dumm man doch sein müsste. Doch meine Freude sammelte sich, je größer der Abstand zwischen mir und dem Markt wurde. Je leiser ich das typische Klappern der Rüstungen hörte, desto größer wurde die Euphorie. Ich krallte meine Finger in die Papiertüte, hörte ein paar Kekse bröseln. Ich schaute nach unten und erkannte, dass diese Tüte sogar voll war. Volltreffer!
Lachend sah ich mich um, erkannte keine verräterischen Schatten zwischen dem aufgewirbelten Schnee und den vereisten Tropfen, die mit einer schnellen Geschwindigkeit auf die Erde prasseln, um doch sogleich wieder vom Wind davon getragen zu werden. Ich hatte es geschafft!
Keine zehn Minuten Fußmarsch erreichte ich die bekannte Straße unserer jetzigen Bleibe.
„Lilly!“, schrie ich in den Sturm, als ich um die Ecke bog und in die Gasse antreten wollte, in welche Lilly schlafen musste. Doch ich hielt in mich, als ich kein Mädchen in der Ecke sah und sofort in einen metallenen Brustpanzer lief. Ich war so geschockt von der plötzlichen auftauchenden Erkenntnis und der plötzlichen Sorge um meine Schwester, dass ich zurückstolperte und die Tüte fallen ließ. Mit einem einzigen Geräusch fiel das Papier in den Schnee. Ich keuchte, als ich die Stadtwache mit den Lanzen wiedererkannte.
„Ich habe den Dieb gefunden. Deine Spuren sind im Schnee erkennbar, du Idiot!“, rief der eine, während der andere hinter ihm zum Vorschein kam. Ich sah aschblondes Haar und stechend grüne Augen. Mehr bekam ich nicht mit, als meine Augen nach Lilly Ausschau hielten und ich gleichzeitig, als ich sie nicht sofort erkannte, nach hinten fiel. Mein Gesäß traf auf hartes Eis, aus meinen Lungen entwich die Luft. Schnell stand ich auf, meine Glieder schmerzten, mein Schwindel erweiterte sich zur nahen Ohnmacht. Sie hatten mich, sie würden mich hängen! Panik übernahm meinen Körper und ich drehte mich um und rannte durch den Schnee, bis ich nicht mehr konnte. Sie schienen mir nicht zu folgen, doch ich hörte bis auf ein stetiges Pfeifen nichts mehr. Ich sah nur noch weiße Punkte vor mir.
Meine Brust schmerzte und ich fiel hin. Schnee durchweichte meine dünne Kleidung bis die Kälte sich schnell unter der Haut festsetzte. Ich zitterte am ganzen Leib. Jeder Atemzug brannte.
Schwer öffnete ich die Augen, sah zwischen dem Weiß irgendwelche Umrisse. Sie haben mich, dachte ich und sank zurück auf den dreckigen Boden.
Lilly, war mein letzter Gedanke. Es tut mir leid. Dass ich nicht mehr machen konnte. Nicht mehr erreichen konnte, als lausiger verarmter Dieb zu enden und die Aufgabe als Bruder nicht erfüllen zu können. Lebe wohl!
Dann füllte Schwärze meinen Kopf und ich hieß sie Willkommen.
„Henry!“, flüstere eine fremde Stimme. Sie umwickelte mit ihrer Zärtlichkeit meine Müdigkeit und entzog mich ihr. Ich wollte weiterschlafen, doch irgendwas hinderte mich dran. Ein süßlicher Duft umwarb mich, bis ich mich zwang, aufzustehen. Ich bemerkte erst jetzt, dass ich nicht mehr auf dem nassen Stein war, sondern auf einem Holzboden lag. Ich sah mich müde um, erkannte mehrere Kisten und Kleinigkeiten darin. Da ich nicht lesen konnte, verstand ich die darauf geschriebenen Worte nicht. Der draußen tobende Sturm erreichte mich nicht dank des Daches über mir. Ich war in einem Pferdewagen, der vorn offenstand.
Ich sah mich um und erkannte eine Rüstung. Sofort schrak ich auf, hielt mir den Mund zu und wich zurück hinter einen Stapel Kisten. Vielleicht hatte er mich ja nicht bemerkt.
„Henry!“, flüsterte wieder die Stimme. Woher kannte er meinen Namen? Die Stimme kam von der Stadtwache, die mich vorhin entdeckt hatte. Doch er trug nur einen Teil seiner Rüstung. Träumte ich?
„Keine Sorge, ich tue dir nichts!“ Die Stimme kam näher, bis ich in die stechend grünen Augen sehen konnte. Irgendwas umwarb meinen Verstand und etwas Schweres legte sich darüber. Als wäre es ein Traum, doch die Schmerzen in meinem Körper und die Kälte in meinen Gliedern konnten nicht realer sein. Moment. Ich hielt inne und betastete meinen Oberkörper. Ein weiches Fell umspielte meinen Finger und meine Hose war aus dichtem Stoff. Irgendwo draußen hörte ich ein Pferd wiehern.
„Was...?“, bevor ich fragen konnte, lachten mich die grünen Augen an. Ich sehe die Umrisse einer Männergestalt. Und doch konnte ich ihn nicht ganz erfassen. Wer war dieser Mann?
„Lilly geht es gut“, flüsterte er wieder. Er drückte mir irgendwas in die Hand. Eine Tüte? Nein, weicher. Moment…
„Wo bin ich?“, wollte ich fragen, doch ein Zeigefinger legte sich auf meine Lippen und aus ihnen entkam kein Laut. Ich machte große Augen, doch die lachenden grünen Augen verrieten nichts. Ich wollte noch einen Versuch starten, doch ich konnte nichts sagen. Die Finger strichen mir auf der Haut und vor meinen inneren Augen entstand ein Bild meiner Schwester. Ich schrak auf und wollte sofort losstürmen, doch ich verstand schnell, dass es keinen Sinn hatte. Es war nur eine Illusion. Ich sah, wie Lilly sich suchend nach mir umschaute und die Tüte von nassen Keksen in der Hand hielt.
„Lilly... “, wollte ich sagen, doch meine Worte kamen nicht bei ihr an.
„Du kannst zu ihr, sie hat sich nur verlaufen. Du wirst sie schnell finden. Nimm das hier.“ sagte er noch und ich hörte gespannt zu. Wieso konnte ich ihn nicht wirklich sehen? Ich konzentrierte mich auf die Stadtwache, die keine Wache zu sein schien. Sie wirkte mehr in der Ritterrüstung einem Söldner. Doch in London in tiefsten Winter gab es normalerweise keine Söldner?
Bevor ich etwas Weiteres sagen konnte, grinste der Mann vor mir und hauchte seine letzten Worte, bevor er wie der Wind selbst einfach verschwand.
„Dies sei dein. Kümmere dich gut um sie.“
Ich krabbelte sofort aus dem Wagen und sah einen grauen Gaul, der am Wagen eingespannt war. Er kaute gelangweilt auf etwas herum und sah mich mit müden Augen an. Als ich den Wagen betrachte, welcher mindestens zwei Meter groß war und voller Waren in Kisten zu warten schienen, endlich benutzt zu werden, sah ich den Brief in meinen Händen. Ich konnte die Worte nicht entziffern, doch irgendwie schienen mir die Worte des Unbekannten in den Sinn, als würde er selbst vor mir stehen und ihn vorlesen.
„Ich habe dich auserwählt, weil ich zu alt bin. Dies sei nun dein. Der Inhalt der Kutsche vermag nicht alles zu heilen, aber die Kleider spenden Wärme und das Essen hält für eine Weile. Teile dies mit allen, die gelitten haben wie du!“
Ich verstand, doch sah mit entgeistertem Gesicht den Gaul an, welche immer noch auf Heu kauend auf etwas zu warten schien.
Es glich einem Wunder.
Einem Weihnachtswunder, als ich mich an das Ende der Geschichte erinnerte, dass ich nur einmal gehört hatte. Zuvor war ich durch die sanfte Stimme meiner Mutter immer eingeschlafen, dennoch erinnerte ich mich deutlich an ihre Worte.
„Mama, woher hat der Ritter diese Waren? Die sind doch sicher teuer und wertvoll. Wieso verkauft er sie nicht?“, fragte mein jüngeres Ich.
„Mein Kind, das ist ganz einfach. Weil er sich mehr um alle anderen, vor allem aber die Kinder, gekümmert hat. Nächstenliebe stand bei ihm an oberster Stelle. Einst hatte er diesen Wagen von einem Fremden bekommen und man sagte dem Ritter, er solle Gutes vollbringen. Er zauberte den Armen ein Lächeln aufs Gesicht. Und wenn er alt und grau ist, sollte ein nächster seinen Platz einnehmen, welcher ebenso die Wunder vollbringen kann. Wer weiß, vielleicht treffen wir ihn eines Tages und du erlebst dein eigenes Wunder?“
Die Bilder verschwammen, als ich etwas in mir spürte. Eine Aufgabe, die größer als ich selbst war.
Der Gaul schaute auf und ich lächelte. „So dann.“ Ich schwang mich auf den Karren und schwang die Zügel. Der Gaul trabte hinaus in die Kälte, die den Wagen nie erreichte. Ich spürte keine Angst, als ich meine kleine Schwester fand, sie aufnahm und wir durch die Gassen Londons fuhren. Sie kramte in den Kisten und ich sah zu, wie ein Flieger sich auf magische Weise erhob und in die Welt hinausflog.
„Das ist ja zauberhaft!“, rief Lilly hinaus. „Woher hast du das alles?“, fragte sie und aß in der Zeit einige Kekse. Ich nahm mir eines, knabberte darauf herum und lächelte.
„Von einem Ritter mit einem fahrenden Karren. Und jetzt verbringen wir die Wunder!“, antwortete ich und führte den alten Gaul in Richtung eines Kinderheims in London.