Sandra stand vor der Wohnungstür, während eine große Gestalt vor ihr durch den Spalt lugte. Es kam ihr mehr vor wie ein Beobachten, ein Spionieren. Dabei war sie doch diejenige, die den Mann aufgesucht hatte, und nicht er sie.
“Was?” Das kraftlose Brummen desjenigen, der sicherlich einen Kopf größer war als sie, erschreckte Sandra nicht. Im Gegenteil. Es bestätigte ihre Annahme, wie Phil drauf war. Vermutlich ausgelaugt und kraftlos, in einer Abwärtsspirale in seine dunkelsten Tiefen. Gefühle konnte der Gute wohl genauso wenig vertragen wie sie, doch Sandra hatte sich ihnen gestellt. Phil wohl noch nicht. Nun, sie hatte es herausgeschafft. Musste es. Jetzt musste sie ihm helfen. Für ihre Zwecke.
“Ich bin Sandra”, versuchte die Blondine es erneut und hielt den Abstand von Tür zu Hausgang bei. Ihre Muskeln waren angespannt. Ihr Kiefer tat weh, so sehr biss Sandra auf die Zähne. Ihre nassgeschwitzten Hände versteckte sie in den Falten ihres geblümten Sommerkleids. “Seine Schwester.” Eigentlich musste sie nicht sagen, wer sie war. Ihre Ähnlichkeit mit Clemenzo war verblüffend. Blondes Haar mit Sommersprossen und großen grünen Augen. Der dunkle Teint dank der portugiesischen Wurzeln, die zierliche, fast schon zerbrechliche Gestalt. Vielleicht scheute sich Phil deshalb, mit ihr zu reden.
“Ich bin gekommen…”
Er unterbrach sie rüde. “Interessiert mich nicht...”, grunzte Phil und trat zurück, doch Sandra schnellte hervor und klopfte wild auf das alte Holz, als diese mit einem Knall zugeschlagen wurde. Was das Klatschen mit der flachen Hand auf die Tür bringen sollte, wusste sie nicht. Doch dumm genug, ihren Fuß zwischen den Spalt zu quetschen, war sie nicht. Neben den Schmerzen am Fuß würde ihr das noch weniger einbringen als diese ganze Aktion, Phil aufzusuchen.
Wieso konnte es denn nicht einmal gut für sie laufen? Erst die Nachricht, Clemenzo sollte tot sein. Sandra war in Italien gewesen, nördlich der Toskana, weswegen die Fahrt hierher satte zwei Tage gedauert hatte. Doch mit jedem Kilometer Autofahrt wurde ihr die Tatsache bewusst, dass sie ihren Bruder verloren hatte. Und mit jedem Meter wurde ihr ebenso klar, dass Sandra Antworten wollte. Sie brauchte. Sie haben musste.
Der Tränennasse Schleier ihrer Augen wurde ignoriert, als Sandra ununterbrochen auf die Tür einhämmerte und lauter sprach. “Er war mein Bruder, verstehst du nicht!?” Das Krächzen und Schniefen machte es nicht besser, doch Sandra gab nicht auf. “Ich will wissen, was passiert ist!” Nichts.
Sandra stand allein im Gang. Sicherlich weckte sie die Nachbarn zu dieser Nachtzeit auf, doch das war ihr scheißegal. Das Auto hatte keinen Tank mehr und ihre restlichen Geldreserven würden für eine Nacht in einem Hotel noch reichen. Doch ihre Gedanken waren woanders. Ganz woanders.
“Ich habe ein Recht darauf!”, schrie sie irgendwann und trat mit dem Fuß gegen das Holz. Die Tür gab nicht nach, im Inneren hörte sie nichts. Das dumpfe Hallen im Treppenhaus verschwand. Unaufhaltsam rannen die Tränen hinab, verschmutzten ihr Gesicht und irgendwann fiel sie auf die Knie. Erbärmlich.
„Ich habe doch nur ihn“, schluchzte Sandra und vergrub ihr Gesicht in den Händen. Würde sie jetzt nichts in Erfahrung bringen, würde Clemenzo wohl auf ewig in ihren Gedanken hängen. Sie musste wissen, ob es wahr war. Dass er wirklich bei der Explosion gestorben war und ein dummer Zufall zu diesem Unfall geführt hatte. Dass keiner seine Hände im Spiel hatte. Denn seit dem Empfang der Hiobsbotschaft keimte in ihr ein unwirkliches Gefühl. Doch ob es Verleugnung war, seinen Tod nicht akzeptieren zu wollen oder reiner Irrsinn, er könne noch leben, konnte sie nicht sagen. Zwei Tage waren bereits vergangen und wirklich länger durfte sie nicht warten. Sie brauchte jetzt Informationen, Antworten, wenigstens Theorien, was geschehen war. Und nur Phil, sein Lebensgefährte, könnte ihr eine Antwort liefern.
Schließlich war er doch sein Arbeitgeber gewesen.
Es dauerte Stunden, als das Klicken eines Schlosses Sandras Aufmerksamkeit auf sich zog.
„Komm rein“, hörte Sandra die raue Stimme des Mannes, der sie zuvor ausgesperrt hatte. Kaum schaute die Blondine hoch, erkannte sie die Augenringe unter dessen Augen. Doch der Blick blieb eisern. Ihr Herz blieb stehen.
Und sie stand auf.