„Ich habe so langsam keine Geduld mehr“, klagte das Mädchen in seinen Kopfhörern und quiekte nachträglich. Das übertönte zwar die restlichen Seufzer der am großen Holztisch sitzenden Mitspieler, dennoch piepste es Ben im Ohr. Es verstand nicht, wie man einen Charakter schaffen konnte, dem man nicht glich. Es sah dabei zu, wie der Avatar des Mädchens, das sich über die stundenlange Warterei beklagte, einen fiktiven Wein zu sich nahm. Über der grünen Leiste des MP stand >Feather<, doch so leicht und unberührt wie ein Engel wirkte sie ganz und gar nicht. Trotz ihres beachtlich hohen Levels von 82 sah man ihr ihre Unerfahrenheit an. Der Look war lediglich dazu da, Beachtung von den männlichen Mitspielern zu bekommen oder von weiblichen Spielern derart unterstützt zu werden, um bei Gruppenquests die Erfahrung einzustauben. Der BH, der ihr mitsamt ihrem knappen Höschen als Rüstung dienen sollte, würde bei einem echten Kampf nicht viel taugen. Gleichzeitig wirkte das Schwert an ihrem Rücken nur als Schmuckstück, genauso wie die verzierten im blonden Haar festsitzende Fächer an den Schläfen. Ja, sie sah gut aus, aber das war es auch.
Ben tippte auf den Avatar und inspizierte ihre Erfolge, sah ihre Waffen und Ausrüstung an und schüttelte den stumm den Kopf. Wie kam diese Frau wohl bloß hier her? Es schien als würde der große Bruder gespielt haben und sie habe seine Brille geklaut, um auch ein wenig prahlen zu können.
„Ja, es dauert wirklich lang und ist ungeheuer langweilig“, stimmte einer ein, der ihr gegenübersaß und einen Bierkrug in der Hand hielt. Das Mädchen schnaubte, als habe es immer recht und drehte ihren Avatar so, dass die Brüste feierlich wackelten. Der ihr gegenüber Sitzende glich Chewbaka wie aus dem Gesicht geschnitten. Lediglich die ausgefallenden Gewehre und Munition, die über das Fell gezogen waren, zeigten Unterschiede. Es nannte sich Chewi, wie kreativ.
Chewi nahm den Krug und setzte zu einem imaginären Schluck an. Alles hier um Ben herum war imaginär, technisch aufgebaut und lediglich ein Spiel. Doch für Ben war es ein Leben geworden, seit der mit der VR-Brille in das MMORPG-Spiel (Mehrspieler-Online-Rollenspiel) >Glorius< eingetaucht war. Es wirkte mehr als real, die Kämpfe sind authentischer, selbst das Design war nicht verkantet oder hackte. Wie in einem dieser Animefilme in 3D wirkte alles echt.
Neben Chewi seufzte eine alte Dame, die durch ihren Kimono, der kleinen Größe und den Holzschuhen nicht wirklich bedrohlich aussah. Bedachte man, dass sie auch keine Waffen trug, war sie die Einzige, die mit einem Level über 100 ausgestattet war. Ihre Inspizierung sagte nicht viel aus außer die üblichen Skills und Erfolge. Wie um alles in der Welt man das in einer Fantasywelt schaffte, in der es nur von Monster und Gefahren so wimmelte, ohne jegliche besondere Kräfte zu haben, verwunderte Ben. Doch sie ignorierte seinen Avatar. Nickend starrte die alte Frau die einzig verbliebene weibliche Dame an, die schön mit ihren Vorzügen spielte, als wäre sie allein in der Taverne. Ben dachte nach, verschränkte die Arme und erzeugte so Aufmerksamkeit.
„Hast du dazu nichts zu sagen?“ bemerkte Feather spöttisch und zeigte auf Ben bzw. seiner Spielfigur. Ben starrte sie an, doch erwiderte nichts. Er musste ihr zwar zustimmen, dass diese Quest hier ein wenig ungewöhnlicher war wie die anderen, dennoch hatte genau dies den Reiz ausgemacht. Eine Tagesquest von einfachen Aufgaben folgte der nächsten, bis man ihm sagte, er müsse in dieser Taverne hier warten, bis der Auftraggeber kommen würde, und man eine unglaubliche hohe Belohnung einheimsen könne. Was genau es war, wusste niemand so wirklich. Genau konnte Ben, der sonst kein Gamer war, es nicht definieren, doch er konnte nicht umhin, wenigstens sich die Quest einmal anzusehen. Er könnte ja immer noch sich ausloggen, wenn er keine Lust mehr hatte.
In der Taverne flackerte träge das Licht, draußen simulierte die Welt ein Sturm, der bedrohlich wirken sollte. Bis auf das Ticken einer alten Wanduhr an der Holzwand wirkte alles düster und zugleich seltsam. Keiner sagte etwas, bis Feather wütend aufstand und zu Ben hinüber stapfte. Ihre aus Eisen geschuppten Schuhe glänzten wie ihre Rüstung in dem Licht, die Absätzen klackerten auf den alten Dielen, bis sich Feather vor ihm aufmachte wie ein Pfau. Würde er allerdings ihr in die blauen Augen schauen wollen, so müsste er ihren Vorbau erst einmal wegschieben. Er musste lächeln, als er ihre Reaktion in den Gedanken weiterverfolgte. Dennoch blieb er sitzen und starrte auf die Uhr. Kurz vor zwei Uhr nachts.
„Was grinst du so blöd?“, zischte Feather und nahm ihm bei der Schulter. Die rüttelte ihn ein paar Mal, doch Ben zeigte keine Reaktion. Ihre Hand glitt so oder so nur durch seinen Körper. Also ließ sie es sein.
„DeadsMan“, las sie seinen Namen laut vor, und er wusste, was nun kam.
„Ahh, der also“, grinste Chewi und zeigte einen Daumen hoch. „Bist du nicht der Einzige, der mit der Rasse Mensch die Königsquest letztens im Alleingang erledigt hat? Ich hab’s drei Mal probiert mit einer Gruppe voller Magier, den verdammten Feuerelementar zu besiegen, aber wir sind alle innerhalb der ersten Minuten im Kampf gestorben.“ Chewi zeigte seinen Respekt, indem er näher an Ben heranrobbte. „Der Cowboyhut und dieses Outfit als richtigen Wildwesthengst ist mir doch gleich aufgefallen. Und diese Knarre da, die ist ja fesch.“ Ben nickte einmal, nahm den Lob dankend an und sah dann in Richtung Feather, die mit ihrer bleichen Hand vor seinem Blickfeld herumwedelte.
„Tss, ein Mensch. Was für eine dumme Auswahl. Menschen haben doch keine spezielle Fähigkeit. Als Elf kann ich wenigstens…“
Die alte Dame räusperte sich, lauter, als es eigentlich nötig war, doch sorgte damit für Stille im Raum. „Man sagt den Feinden keine Geheimnisse, junge Dame.“ Myra, wie sich die Japanerin nannte, blickte mit trüben grauen Augen das Mädchen an, die zusammenzuckte und wieder auf ihren Platz schlich. „Was bist du für eine schräge alte Schachtel“, murmelte sie, während sie sich wieder setzte.
„Eine müde Heldin, wie wir alle um diese Uhrzeit“, meldete Myra sich und blickte wieder stumm den Tisch an.
Es vergingen einige Minuten, dann wurde es ruhiger. Ben dachte nach. Er war also nicht der Einzige, der diese seltsame Nachricht bekommen hatte, in der Taverne hier auf den mysteriösen Auftraggeber zu warten. Übrig geblieben waren in den letzten Stunden nur diese drei, ausgenommen von ihm. In der Ecke saß noch eine düstere Gestalt, doch er ignorierte den NPC. Er war sich sicher, dass er der düstere Barkeeper sein soll, den die Spielentwickler eingebaut hatten. Vielleicht sollte er Angst verbreiten, dass nicht zu viele diese Quest machten. Als man ihn anzusprechen versucht hatte, hatte er jedenfalls nicht reagiert. Vielleicht hatte Ben mit Level 95 nicht genügend Erfahrung bisher gesammelt, um ihn ansprechen zu können. Doch die Welt von Glorius waren wirklich viel zu groß, als dass Ben alle Regeln verstanden hatte. Er sah erneut auf die Uhr, hörte den Schlag im Hintergrund zwei Mal, als die Tür die Tür sich plötzlich öffnete, Regen hineinprasselte und Chewi leblos zu Boden krachte.