Malte atmete tief ein, als die Regentropfen auf das Glas fielen. Der Geruch von Süßholz und Kräuter drang in seine Nase, während das Kerzenflackern seltsame Schatten an die Wände warf. Gedankenverloren tunkte Malte den Finger in das Wachs und erfreute sich an dem glitschigen Gefühl auf der Haut. Gerne würde er die ganze Hand hineintunken, doch die kleine Flamme hinderte ihn daran. Bevor er sich verbrennen konnte, hielt er den Finger vor das Gesicht und sah zu, wie die bröselnden Stückchen auf den Tisch rieselten. Gradewegs auf seinen leeren Block. Malte sah nach unten.
„Müsste mal gefüllt werden“, murmelte er und verzog die Mundwinkel nach unten. Wer hätte gedacht, dass Studieren ein großer Wirrwarr aus unzähligen Büchern, Texten, Schreibarbeiten und offenen Fragen darstellte und er selbst eigentlich jedes Mal nur schreiend wegrennen wollte, wenn er die Vorlesung betrat oder wieder einmal null verstand. Jeder Blick zu anderen zeigte ihm Verständnis oder wenigstens den Ansatz einer Logik heraus, doch er schaute nur stirnrunzelnd zu und ließ sich berieseln. Manchmal fragte er sich wirklich, ob er nicht lieber doch was anderes machen sollte. Aber was? Die Frage, wohin der Weg ihn führen sollte, stellte sich ihm ebenso oft wie die Frage, wieso er sich nie entscheiden konnte und doch irgendwie immer unzufrieden war.
Seufzend stemmte sich der junge Mann gegen die Lehne des Stuhls und dehnte sich ausgiebig, stand auf und hielt inne.
Ein Klackern. Er hatte es gehört. Eindeutig. Malte hielt die Luft an. Das stetige Prasseln des verregneten Wetters auf der Fensterscheibe gab der Nacht einen grusligen Touch, doch Malte hatte sich nie etwas aus Horror gemacht. Vielleicht war es etwas im Gang der Studentenbude gewesen.
Achselzuckend wollte er weitergehen. Seine Beine erstarrten in der Bewegung, als er aus dem Augenwinkel rotes Leuchten erkannte.
Das Herz klopfte. Einmal, zweimal. Rote Punkte. Zwei Stück. Ein Blinzeln.
Malte huschte zum Fenster, zog die Gardine zurück und starrte in schwarze Finsternis. Vereinzelt glitzerten die Regentropfen in dem Deckenlicht, doch selbst dieses schien ihn zu verhöhnen.
Gänsehaut breitete sich aus. Wie auf Knopfdruck stellten sich die Haare auf. Nein, er bildete sich nicht Sachen ein. Das war da gewesen! Fieberhaft versuchte Malte, sich zu überlegen, was Stand der Dinge war.
Ein Streich seiner Kommilitonen? Eine Katze? Einbildung? Dabei war er doch nicht sein Vater, der hatte schließlich Schizophrenie. Nicht er. Hatte man da nicht Halluzinationen? Keine Ahnung.
„Was…“, ein Atemhauch später beruhigte er sich, als er nach etwas suchte, das er nicht begreifen konnte. Sein Gehirn arbeitete, doch er kapierte recht spät, als er die Finger auf die Scheibe legte. In dem Augenblick erklang Donnerhall, die Welt ging komplett unter. Der Regen hatte sich binnen Sekunden aufgebauscht, das Unwetter stand direkt über dem Studentenwohnheim.
Scharfkantige Rillen kratzten das restliche Wachs von dem Finger, die restlichen Fingerkuppen fühlten raues Glas. An einer Stelle ritzte sich Malte auf. Er nahm die Hand und betrachtete den Blutstropfen atemlos.
Die Kratzspuren, nicht größer als seine Hand, waren auf dem Glas. Innen. Nicht draußen. Malte drehte sich um und suchte im gut beleuchteten Zimmer Anhaltspunkte für Eindringlinge. Nichts.
„Mhhh…Bluuuut“, kratzte etwas in Ohren wie Kreide auf einer Tafel. Sofort wurde Malte kalt.
„Wer..?“, wollte er schreien, doch sofort sah er über sich und starrte in zwei rote Punkte. Ein langer Schrei drang aus der Kehle und Malte rannte Richtung Tür. Er kam keine drei Schritte weit.
Ein Gewicht wie ein Zementsack stemmte ihn zu Boden, Malte fiel gradewegs auf den dreckigen Boden. Auf dem Laminat quietschten seine Schuhe noch, doch das gehässige Lachen überall ließ sich nicht ausblenden.
„Bleib hier, Mensch! Der Meister will dich…“
„Genug, Maestus!“, hallte eine weitere männlich Stimme durch das Zimmer. Fest und beständig. Malte sah auf, doch wegen dem Biest auf ihm konnte er nur einen weiten Umhang ausmachen, schwarz wie die Nacht. Schwere Stiefel blieben vor ihm stehen und eine Hose, wie Malte an eine Cargohose erinnerte, saß locker auf den Hüften. Mehr Blick stand ihm nicht zu, als das Biest auf dem Rücken herumtrampelte und Malte vor Schmerz aufschrie.
Als die Stimme erneut Luft holte, blieb sein Herz stehen.
„Ich bin gekommen, um Euch zu holen.“
Der Tod, dachte Malte. Tränen liefen über die Wangen. Wieso weinte er? Woher kamen auf einmal die Tränen? Der Druck auf dem Rücken erlaubte ihm keinen klaren Gedanken. Nicht einmal keuchen konnte er.
„Runter, Maestus!“, befahl der Fremde und das Biest folgte. Malte hievte sich hoch, atemlos und benebelt voller Panik und Angst. Der Duft von Kräutern drängte sich ihm auf. Die Kerze brannte also noch. Er sah die wackelnde Flamme und schaute hinüber. Erst jetzt verstand er, dass das Licht der Lampe erloschen war. Kaum auf den Knien aufgerichtet sah er den Fremden in die stechenden roten Augen. Sein Gesicht lag im dunklen Schein, als würde die Nacht ihn selbst umhüllen.
Maltes Geist leerte sich. Der Atem war stetig und langsam, ein Widerspruch zum wildklopfenden Herzen in der Brust. Ein Gedanken drängte sich ihm plötzlich auf. Ein einziger Gedanke, mehr hatte Malte nicht.
Würde er hier sterben? Würde er sich mitnehmen lassen? Nein.
Also stand er auf, mit geballten Fäusten und starrte dem Tod trotzig in die roten Augen.