„Ich kann das nicht mehr“, schniefte Tina und zog den Inhalt ihrer Nase hoch. „Ich schaffe das nicht mehr. Das ist mir alles zu viel.“
Tausende Tränen waren an diesem Abend geflossen, hauptsächlich in mein Shirt oder in Tempos, die zerstreut auf dem Boden und der Matratze verteilt lagen. Auch wenn ich mein Zimmer grundsätzlich kaum sauber hielt, nach dem heutigen Tag musste ich wohl die ein oder andere Stunde für Reinigung aufwenden.
„Ich kann verstehen, dass das schwierig sein muss.“ Konnte ich das? Nicht wirklich, eigentlich. Immerhin hatte ich ja meine Beziehung noch. Sie ihre allerdings nicht mehr. Dabei lag ihr Ex keine zwei Zimmer weiter auf seinem Bett und wusste nichts von der Gefühlsmisere, die er bei Tina ausgelöst hatte. Und statt einem entspannten Filmabend saß ich nun auf meinem Bett und tröstete eine Kommilitonin, die ich kaum zwei Tage kannte. Wir besuchten beide fast die gleichen Kurse, und so lief man sich zwangläufig irgendwie immer über den Weg. Und da war ich ihr wohl aufgefallen. Oder sie mir. Irgendwie.
Ein erneuter Anfall von Krokodilstränen schoss ihr aus den blauen Augen und verteilte sich auf meinem Oberteil. Mein Handgelenk tat mittlerweile weh, so sehr tätschelte ich behutsam ihre Schultern. Ich war ihr persönliches Taschentuch. Ein überfordertes Taschentuch. Was machte man mit fast Fremden, die heulend vor der Tür stand und sonst keinen zu haben schien?
Ich hatte angenommen, Tina war eine abenteuerlustige junge Frau mit guter Figur und beliebtem Status. Die Gruppe, mit der sie immer zu sehen war, schien mir ihr Freundeskreis zu sein und gleichzeitig saß sie hier. Allein und verzweifelt.
Während die Blondine Tempo für Tempo aus der Packung zog, die Schminke aus dem Gesicht wischte und ihrer Heulerei nachging, kamen in mir selbst seltsame Gedanken auf. Was war Tina für eine arme Frau, weil sie keine richtigen Freunde zu haben schien und sich bei einem notorischen Alleingänger ausheulen musste? Was war ihr Ex wohl für ein Mensch, weil er mit so einer scheinbar tollen jungen Frau ausgerechnet jetzt Schluss machte? War das alles vielleicht nur ein schlechter Scherz, weil ich mich grundsätzlich von allem abkapselte, was mit sozialen Kontakten zu tun hatte? Ganz abwegig war mir das nicht, hatte ich doch schon solche Erfahrungen gemacht.
Und doch saß ich hier. Mit Tina. Der Anfang einer ganz tollen Freundschaft?
„Weißt du, ich wusste nicht mehr wohin…“, murmelte sie in meine Schulter. Die Haare standen ihr mittlerweile in alle Richtungen ab. „Ich…es tut mir leid.“ So leise kamen die Worte aus ihrem Mund. Ich hatte sie aber deutlich vernommen.
Mein angespannter Rücken lockerte sich ein wenig und ich strich ihr gedankenverloren auf dem Rücken, während Tinas Kopf sich auf meiner Schulter wohl zu fühlen schien.
„Schon okay,“ sagte ich ebenso leise und sah sie an. Der Blickkontakt war länger als erwartet und so sah ich meinen Wäscheberg vor mir an. Ich wusste so oder so nicht, was ich zu Tina sagen sollte. Du Arme, was für ein Arschloch muss dein Ex wohl sein. Oder sowas wie, du bist zu gut für ihn, glaube mir.
Tina war schlichtweg eine Fremde für mich. Zwischen den Schluchzern hatte ich nur ihren Grund verstanden, wieso sie seit einer Stunde auf meinem Bett saß und weinte.
Auch jetzt, nachdem Tinas Weinkrämpfe langsam verebbten, sah sie sich um, um einem Gespräch zu entgehen. Ihr Aufenthalt verlängerte sich auf zwei Stunden, während der von mir gemachte Tee sicherlich bereits Zimmertemperatur erreicht hatte. Angerührt hatte sie den Früchtetee allerdings nicht. Er duftete nach Waldbeeren.
„Okay“, sagte sie dann und stand langsam auf. Meine tröstende Umarmung lag schon lange zurück. Wann ich genau damit aufgehört hatte, wusste ich nicht mehr genau. Ich fühlte mich fremd, irgendwie seltsam fürsorglich und verantwortlich, ihr zu helfen. Mehr nicht. Tina bedankte sich bei mir, lächelte schmallippig und ging zur Tür. Kaum kam ich zu ihr, nickte ihr zu und wartete an der offenen Tür, sah ich zu, wie sie im Flur verschwand. Richtung Zimmer 440.
Beim Umdrehen sah ich meine Zimmernummer auf einem Schild: 438.
Ein langer Atemzug entwich, die Spannung fiel gänzlich aus dem Raum. Doch stand ich mitten drin und wusste nicht so recht, was zu tun war.
Es stand jedenfalls fest, dass Tina morgen wieder die Alte sein würde.
Und ich weiterhin der unauffällige Schatten.