Ein Sprung ins kalte Wasser, dann war Kati im Himmel. Die Kühle kroch sofort in ihren Körper, über die Haut nahm sie die Kälte auf, als wäre Eiswasser über ihrem Kopf ausgeschüttet worden. Dieses Gefühl genoss sie so sehr, dass sie fast aufgestöhnt hätte. Doch unter Wasser gönnte sie sich diesen Sekundenmoment nur für sich, sodass sie in ausgestreckter Position darauf wartete wieder durch die Wasseroberfläche durchzubrechen.
Doch in diesem Moment passierte so viel in den Millisekunden. Sie dachte an vergangene Momente, an künftige Aufgaben im Beruf, an den Stress in ihrer Beziehung und so viel mehr. Wie viel sie noch heute einzukaufen hätte und an was sie heute Nacht geträumt hatte. Ihre Augen geschlossen, die trotz der Schwimmbrille so oder so keinen Kontakt mit dem Wasser hatten, wurde sie kurzzeitig von Dunkelheit umhüllt. Genau das war es, dass Kati gerne in ihrem Leben machen würde. Einen Moment einfrieren, gerne mal überlegen und sich sortieren. Wie ein Film fühlte sich ihr Leben an, wenn sie in dieser Situation ihre Energie aus den Tiefen holte. Ihrem wirklichen Ich, ihrer Kati, die nur sie kannte, die so ruhig und durcheinander war, die seit Jahren immer nur existierte und nicht lebte. Überlebte.
Nachdem der Schwung fast ausgenutzt war, tauchte ihr Kopf auf, ihre Lungen füllten sich mit der frischen Luft, als wäre sie neugeboren worden und ihr erster Atemzug in ihrem Leben würde ihr bevorstehen.
Ihr Körper bewegte sich, ohne dass sie wirklich nachdenken musste. Die Arm- und Beinschläge waren ihr durch die jahrelangen aktiven Tage als Schwimmerin in Fleisch und Blut übergegangen. Jedes Mal, wenn sie sich unter Wasser lang machte, wollte sie nur unter der Wasseroberfläche bleiben. Doch ihre Anatomie ließ dies nie zu, denn sie war geboren, um Luft zu atmen. Doch dies war in Ordnung, wenn sie wenigstens in den wenigen Stunden in der Woche ihr Inneres sortieren konnte. Wenn man in dem Gerümpel voller unverstandener Gefühle, Selbstzweifeln und Theater im Leben noch wissen sollte, wie und wo man anfangen sollte. Natürlich, irgendwie musste sie damit klarkommen, jeder hatte Probleme und manche sogar mehr wie sie. Irgendwo musste sie einen Cut setzen, Schranken und Regeln klären, und vielleicht auch einfach ihre Einstellung ändern. Also ging sie systematisch vor wie in ihrem Beruf als Naturwissenschaftlerin. Ein Problem, eine Lösung, vielleicht auch mehrere. Wie in einer übergroßen Bibliothek in ihrem Kopf suchte sie in den Tiefen ihres Verstands nach einem Buch, einen Gedanken, der ihr helfen könnte.
Es gab vieles, dass ihr aktuell Sorgen machten. Doch am meisten litt sie unter der Beziehung, wenn man bedachte, dass sie ihren Partner grade mal zwei Mal in dem Monat sah. Sie hatte seit geraumer Zeit eine Fernbeziehung. Doch Stift und Papier, stundenlanges Telefonieren oder dergleichen sorgten nicht dafür, dass das klaffende Loch in ihrem Inneren gestopft werden konnte. Vieles half nur temporär, auch ihre Freunde konnte sie nicht im Mindesten verstehen. Doch es gab es aktuell nicht her, dass sie sich einfach in seiner Stadt absetzte oder er sich bei ihr. Sie hatten ihre Grenzen und Wünsche, Regeln und Forderungen beide klar formuliert. Auch wenn sie am liebsten alles abbrechen würde und einfach nur zu ihm fahren wollte.
Wenn man Tränen beim Schwimmen vergießen könnte, würde sie es tun. Doch ihre Trauer verband sich nur mit dem Süßwasser im Freibad, ließ keinen aber an ihren Gefühlen teilhaben. Kati zog mehr aus ihren Muskeln heraus, bis sie selbst die Kraft spürte, die bei jeder Bewegung mehr und mehr gefordert wurde, trieb sich selbst an, Trauer in Kraft zu verwandeln. Etwas Gutes aus dieser verdammten Verzweiflung zu ziehen. Außer Atem war Kati nicht. Sie würde noch weiter machen können, weiter machen wollen. Viel weiter. Viel mehr. Sie würde alles machen, nur um endlich durchzubrechen zu können. Und doch tat sich nichts.
In einem ewigen Kreis voller viel zu schnellen Bewegungen zu stehen, aus dem man nicht entkam, das war ihr lieber als das. Der einzige eingefrorenen Moment in ihrem Leben, ein stiller Kreis, aus dem man nicht entkam. Ihre Beziehung. Die einzige Situation, die sich nach Jahren nicht änderte, weil beide ihre Wünsche hatten und sich gegenseitig respektierten. Neben der Verzweiflung kroch Angst ihr Rückgrat hoch, ließ sie innerlich frösteln. Und doch kreisten graue Regenwolken über ihr wie in ihrem Gedanken sich das Unwetter auszubreiten versuchte. Doch je mehr sie schwamm, je mehr sie aus sich zog, desto mehr konnte sie alles rauslassen. Wie das Gewitter braute sich alles in ihr zusammen, um es explosionsartig herauslassen zu können.
Die Bahnen wurden zu einem Weg, der an ihr vorbeizog wie die Autobahn während der Fahrt. Als Fahrer konzentriert man sich, was vor einem liegt. Die Schilder, das Navi, vielleicht der ein oder andere Kommentar vom Beifahrer, aber dennoch niemals nach hinten blickend. Dieser Vergleich schoss ihr durch den Kopf wie ein Stromschlag, als sie sich von dem Rand abstützte und den Schwung nutzte. Eine sofortige Entspannung machte sich in ihr breit.
Innerlich lächelte sie, eine mögliche Lösung gefunden zu haben und nutzte ihre Muskelkraft, um ihrer Begeisterung Ausdruck zu verleihen, die letzten Züge der 25m Bahn auszunutzend und alles noch einmal herauszulassen.
Bei jedem Auftauchen durch das Brustschwimmen erkannte Kati, wie einzelne Regentropfen das Becken trafen und sich die kleinen Kreise formten. Sie durchbrach diese, erzeugte ihre eigenen Wellen, bis vor ihr Neue auftauchten. Es war nur Niesel und doch fühlte Kati, das irgendwer vielleicht mit ihr weinte, in einer ähnlichen Situation war. Der Himmel schien mit ihr zu weinen, denn sie konnte dieses Gefühl, nicht allein zu sein, nicht loslassen. Die letzten Reserven schleuderte Kati in ihre Bewegungen, dann war sie verbraucht. Ihr Körper war erschöpft, wenngleich es nicht der Sport war, der ihre Ausdauer an ihre Grenzen brachte.
Der letzte Zug war getan. In Katis Lungen presste sich die Luft und sie war vollkommen am Ende. Und doch lächelte sie. Ihren Kopf legte sie in den Nacken, genoss die Kühle, die von oben herabfiel und dankte im Stillen. Wem oder warum, war ihr egal. Doch sie war aufgetaucht und konnte atmen. Jedenfalls für dieses einen Moment auch leben.