Ich hielt die Luft an, blies meine Wangen auf und ließ sie nur langsam entweichen. Dabei versuchte ich aber, keine Geräusche von mir zu geben. Immerhin befand ich mich mitten im Unterricht.
„Die Gesetzestexte geben Ihnen einen Hinweis auf..“, und schon waren meine Gedanken woanders, als eine Reihenfolge von Paragraphen und Zahlen folgte. Rechtswissenschaften, wie spannend. Mein Nebenmann, Finn, unterdrückte ein Gähnen unter vorgehaltener Hand. Aus dem Augenwinkel erkannte ich, dass es links von mir meiner Zimmergenossin Greta nicht anders erging. Die Luft drückte dank den sommerlichen Temperaturen und die Sonne knallte draußen auf das Gebäude. Und wir wurden gedünstet wie Ofengemüse.
„Subtiler Weise generieren sich aus den vorhin rezitierten Paragraphenketten neue Gegebenheiten, die von größter Wichtigkeit sind “, kam es wieder vom Dozenten. Dessen Stimme glich wie einer motorisierten Abfolge von Wörtern in der Bildungssprache, mit denen man im normalen Sprachgebrauch niemals um sich werfen wollte. Er war schier und ergreifend das Valium unter den Dozenten.
Ich schaute auf den Sekundenzeiger, der sich rückwärts drehen musste, so langsam verging die Zeit.
„Ich insistiere, dass diese Anwendungen von Ihnen konzeptualisiert und die Inhalte segmentiert werden.“ Man konnte leider seine ernste Miene hinter der Nickelbrille nicht sehen, denn der kleine Dozent versteckte sich hinter dem Bildschirm. Und seit geschlagenen vierzig Minuten war er nicht einmal aufgestanden.
Meine Augen suchten eine Beschäftigung und ich griff nach einem Stift. Die Unterrichtsmaterialien waren vor mir ausgebreitet wie eine Tischdekoration. Federmäppchen, Block, Ordner, Buntstifte, Füller, Tintenkiller. Wieder blies ich die Wangen auf und diesmal drehte sich Finns Gesicht zu mir. Er lächelte mitfühlend und nickte mehrmals. Für ihn war studieren wohl auch viel zu viel lernen von unnötigem Zeug. Und ich wollte nicht den Schreibblock vollkritzeln. Vielleicht würden sich die leeren Seiten ja mal mit Sinnvollem füllen lassen als mit einem Vortrag, das in der Klasse zu einem heimlichen Gähnmarathon führte.
Plötzlich klopfte es, der Dozent wurde still.
„Sie wünschen?“, sagte er ein wenig lauter, der Kurs hielt vor Spannung die Luft an. Kam die ersehnte Erlösung des Unterrichtsende oder ein unvorhergesehener Hammerschlag? Kaum wurde die Tür geöffnet, erkannte man einen Glatzkopf im Türspalt. Leuchtend blaue Augen huschten umher, die Mundwinkel fest nach unten gezogen. Der Mann blieb im Türrahmen stehen, hielt mit einer Hand die Klinke fest, als sei er in Zeitnot und der Grund seiner Anwesenheit sei nur eine terminlich kurze Sache. Entschuldigend wurde eine beharrte Hand zum Dozenten gehoben, der nur nickte. Der Unbekannte suchte sich um, fand meinen Blick und krallte sich daran fest. Zwei Sekunden später nickte er mit zur und winkte mich nach draußen. Ich blinzelte. Wer war das denn überhaupt?
Der Glatzkopf trug einen braunen Sakko und irgendwie passte die dunkelbraune Jeans nicht zu dem Gesamtkonzept. Einzig die ernsten Gesichtszüge machten in mir das Gefühl breit, ich hatte statt Tortellini Backsteine zum Mittag.
Kaum war ich aufgestanden und zur Tür marschiert, hörte man schon das leise Tuscheln der Kommilitonen. Ich unterdrückte ein Stöhnen und wartete, bis die Tür eingerastet wurde und verschränkte die Arme. Wir standen als einzige auf dem Gang.
„Folgen Sie mir“, meinte der Glatzkopf nur. Er hatte sich zu schnell umgedreht, doch ein Blick auf das Namensschild konnte ich noch erhaschen, bevor er strammen Schrittes sich schnell entfernte. Viktor Herzlich. Es dämmerte. Der Rektor? Nein, Hochschuldozent und verantwortlich für den IT-Fachbereich. Wir hatten ihn vorletzte Woche in einer Unterrichtsstunde gehabt. Was wollte der denn von mir?
Stumm folgte ich ihm, bis ich es nicht mehr aushielt: „Was ist denn los?“
„Es geht um etwas Wichtiges.“ Viktor sprach mit dem Rücken zu mir und auch das Murmeln verhalf mir nicht, ihn wirklich zu verstehen. Wir liefen in Richtung der Büros, die Gänge waren allesamt leer, alle waren in ihren Kursen. Ich sah Viktor genauer an. Kein Hinweis auf Nervosität, aber diese Augen huschten immer wieder umher. Ab und an hatte ich das Gefühl, er knickte unter seinem Eigengewicht ein wenig zusammen, als würden seine Beine ihm nicht mehr gehorchen.
Schließlich standen wir vor dem Büro, er öffnete die Tür und platzierte sich hinter dem Schreibtisch, setzte sich jedoch nicht. Ich blieb an der Tür stehen.
„Wieso sind wir im Büro unseres Rechtsdozenten, wenn Sie für IT zuständig sind?“ Ich machte einen Schritt zurück.
Viktor schaute auf, als er sich gegen die Holzplatte lehnte. Die blauen Augen fixierten mich, als er eine Handfläche erhob. Er drehte sie langsam nach oben, als würde er mich zum Tanzen auffordern wollen. Ich holte Luft, um mich zu verabschieden. Doch dazu kam es nicht.
Ein plötzlicher Sog krallte sich in meine Schultern, zog mich in den Raum. Die Tür knallte hinter mir zu. Es wurde dunkel.
Einzig große blaue Kreise leuchteten bedrohlich in der Dunkelheit und fixierten mich voller Hunger.