Melanie sah sich um. Hektisch. Wo war sie nur hier gelandet?
Ihre blauen Augen suchten sich nach Versteckmöglichkeiten um.
Sie werden mich bald finden. Nein, das dürfen sie nicht. Hilfe.
Ihr stand der Schweiß auf der Stirn. Links und rechts schaute sie nach einem Loch, einem großen Gegenstand, einem…sie lachte leise.
Schnell schafften ihre Füße es, sich hinter dem Holz zu verstecken. Es war kein besonders gutes Versteck, da sie im Norden noch offenes Sichtfeld hatte. Doch man würde sie hier nicht sofort finden, denn ihre Sucher kamen vom Süden. Schnell wagte Melanie einen Blick, riskierte es, gesehen zu werden. Keiner zu sehen.
Erleichtert atmete Melanie aus und gönnte sich ein paar Sekunden, die Lage zu sondieren. Ihr Versteck zu betrachten, wenn sie sich schon mit Leibes Kräften gegen das Holz drückte. Sie roch das modrige Alte an dem Holz.
Immer wieder zuckten die Augen in alle Richtungen, doch keiner kam. Es war ruhig, viel zu ruhig. Melanie kniete sich hin und versuchte sich kleiner zu machen. Sie war so gut, viel zu gut, keiner würde sie finden.
Ihre Gedanken schweiften ab, als ihre Konzentration sofort nachließ. Vor ihr auf dem Boden erstreckten sich bunte Blätter. Sie sah nach oben und erkannte einen Ahorn und daneben einen großen Eichelbaum. Schnell wagte sie noch einen Blick und sah zu, wie keiner ihr zu folgen schien.
Ihre Augen fokussierten die bereits gefallenen Blätter. Ein Rotton stach besonders hervor und erinnerte Melanie an ihren Lieblingspullover. Kein klares Rot aber auch kein Weinrot. Eine Ecke des Blatts war noch grün, verfärbte sich dann Richtung Orange und floss direkt in ein dunkles Blutrot über. Daneben eine Eichel, die bereits ausgehöhlt war. Entweder ein Wurm oder ein andres Insekt war der Frucht des Baums zum Opfer gefallen. Schnell nahm Melanie die schönen und mit verschiedenen Rot und Orange-Tönen verfärbte Blätter und Eicheln auf und wollte grade wieder die Lage sondieren, als eine Hand sie an der Schulter packte. Sofort sprang sie auf und flog vornüber.
„Hab dich!“, rief Stefan hinter ihr und lachte. Ihr bester Freund strahlte sie an und lächelte anschließend stolz. Es kam selten vor, dass Melanie bei den Versteckspielen verlor. Und noch seltener kam es vor, dass sogar Stefan sie fand. Aber beide kannten sich eben viel zu gut.
„Das ist unfair!“, grummelte Melanie, wusste aber, dass es ihre eigene Schuld war. Sie hatte sich zu sehr ablenken lassen. Dennoch drückte ihre Stimmung nicht weiter, als sie bis zu zehn Blätter aufnahm und schnell zum Gebäude rannte. Leichter Niesel regnete herab und Melanie sah die grauen Wolkendecke über sich.
„Schnell, kommt alle rein bevor es anfängt zu regnen.“, rief Berta, die Erzieherin, aus der Kindestagesstätte.
„Warte!“, rief Stefan und zog an ihrem Ärmel. Er zeigte auf einen Haufen Blätter, die eben so schön funkelten. Melanies Augen weiteten sich und sie rannte mit Stefan gleich zu dem Berg, den der Hausmeister einen Tag zuvor zusammengerecht hatte. Eigentlich wollte sie hineinspringen, doch sie fand ein Blatt in einem Gelbton. Gelb war ihre Lieblingsfarbe und das wusste Stefan.
Sofort fielen die Tropfen auf ihren kleinen Kopf und Melanie sah fasziniert zu, wie ihre Haare nasser wurde und die einzelnen Tropfen ihren Weg zum Boden fanden. Ihr machte kaltes Wetter nicht viel aus, obgleich sie auch nur im T-Shirt draußen stand.
„Melanie!“, rief Berta hinter ihr und Stefan zog Melanie in das Gebäude zurück.
Berta schaute ein wenig ernst an und Melanie störte sich nicht weiter daran. Stattdessen zeigte sie auf ihren Schatz, den sie mit vollem Stolz in die Höhe hielt. Berta lächelte ein wenig und ermahnte sie, mit Jacke nächstes Mal raus zu gehen. Melanie stolzierte einfach in das Zimmer mit den Spielsachen.
Sie zog Stefan weg, als dieser grade einen hohen Turm aus LEGO bauen wollte.
„Hey!“, machte er und sie zeigte auf die Blätter und kramte Eicheln aus den Taschen. Sofort verteilte sie der Dreck auf dem Essenstisch. Berta schien zu ahnen, was Melanie vorhatte und klatschte in die Hände. Alle fünf Kinder aus dem Nachtmittagsgruppe „Fröhliche Sonne“ schauten auf.
„Ich glaube, Melanie hatte eine gute Idee.“, sie zeigte auf die Blätter, dann auf die Eicheln und erklärte. Keinen störte es daran, wieder im Regen raus gehen zu dürfen und im Dreck nach farbenfrohen Herbstmotiven zu suchen. Melanie sah indes zu, wie andere ihre Blätter für eine Collage suchten.
Sie machte sich an die Arbeit, schnitt und klebte fleißig.
Als ihre Mutter Melanie um fünf Uhr abholte, sah Berta auf und erklärte ihr, wie der Tag mit Melanie verlaufen war. Ihre Mutter kniete sich hin und sah sehr gestresst aus. Doch Melanie hatte ihr fertiges Projekt bisher keinem gezeigt, hob es hoch und sah die Überraschung in den Augen ihrer Mutter.
Eine Träne floss langsam über ihre Wange, als Melanie in den Arm genommen wurde.
„Ich liebe dich auch, meine Kleine.“, flüsterte sie in die kleine Schulter ihrer fünfjährigen Tochter.
„Und dein Vater hätte es auch getan.“
Melanie genoss die Berührung und sah auf ihr Kunstwerk. Dank Berta hatte sie die Blätter und Eicheln so gelegt, dass ein paar Buchstaben darauf zu erkennen waren. Melanie konnte noch nicht lesen, doch laut Berta war da ein I zu erkennen. Und ein U. und ein Herz war außen drum geschmückt.
Melanie lächelte stolz, nahm ihre Sachen und folgte ihrer Mutter nach Hause.