„Ich habe es gesehen!“ Diese Worte sorgten für Stille im Saal. Der Hall dröhnte in den Ohren der Beteiligten und Anwesenden, während der Nachklang die Reporter nach Luft schnappen ließ. Die Bedeutung dessen, was die vor ihm Sitzende nun gesagt hatte, machte Fritz ebenso nervös wie die Tatsache, überhaupt erst hier zu sitzen.
„Ich hab´s gesehen“, wiederholte die Frau, die zitternd ihre Handtasche packte und in ihren Gedanken versunken war. Das Blitzen der Kameras erlosch wie ein Feuer im Wind, die Luft wurde zunehmend drückender und selbst die Richterin setzte sich auf, hörte auf zu schreiben und versuchte, aus dem Satz schlau zu werden. Fritz dagegen legte die Finger übereinander und wartete ab, was nun geschehen würde. Unruhig rutschte er auf dem Holzstuhl auf und ab, doch er fand keine Position, die ihn zufrieden stellte. Schweiß rann ihm über den Rücken und sicherlich waren die Ringe unter seinen Achseln bald zu sehen, wenn das Ganze noch länger ging.
„Frau Gerold“, begann die blonde Richterin die Zeugin anzusprechen. Diese erschrak, blickte um sich als wüsste sie jetzt erst, wo sie war und was sie eigentlich von sich gegeben hatte.
„Ja?“, mit Daumen und Zeigefinger rückte die Ältere die Brille zurecht, packte wieder das Leder der Tasche und sah auf. Durch das Knarzen des Materials mit der Haut platzte Fritz fast das Trommelfell.
„Erläutern Sie doch bitte den Anwesenden, was Sie an dem Abend vor der Tat wirklich gesehen haben.“ Die Schöffen wie auch die Richterin sahen neugierig und zugleich ernst drein, während man im Hintergrund das Tippen der Protokollantin hörte. Mehr als das Atmen und der Tastatur vernahm man nicht. Die Aussage von Frau Gerold war entscheidend. Das wussten alle hier. Selbst die Reporter hörten auf, an Schalter und Tasten der Kameras herumzuspielen und wagten es nicht, die 80-Jährige bei ihrer Aussage zu stören.
„Ich bin nach draußen gegangen, wissen Sie. Am nächsten Tag sollte die Tonne abgeholt werden und die stelle ich immer am Vortag hin. Es war kalt und ich habe meine Brille aufgehabt. Ich sehe nicht mehr gut, aber mit dieser hier“, dabei zeigte sie in Richtung Brillengläser. „Mit denen hier schon.“ Die Dame machte eine Pause, trank von dem Wasserglas und fuhr fort: „Dann hörte ich ein Auto. Es klapperte ziemlich und die Farbe war so ein hässliches Rot. Ich weiß das deshalb, weil ich diese Farbe hasse. Und dann bin ich wieder hineingegangen.“
Frau Gerold lehnte sich zurück und leckte sich über die Lippen. Schwer lasteten die Blicke auf ihr, doch Fritz schien es, als wäre sie gar nicht wirklich hier. Als würden ihre Gedanken woanders schweben und ihre Worte nur dem entspringen, was ihr gerade in den Sinn kam.
„Und weiter?“, fragte ein Schöffe neben der streng dreinblickenden Richterin. Ihre Geduld war allmählich aufgebraucht. Und die von Fritz ebenso.
„Ich habe etwas gehört und bin raus gegangen. Vielleicht war das ja wieder meine Katze Luna, oder so. Dann...“, sie keuchte aufgeregt und fing wieder an zu zittern „…stand das Auto vor der Tür. Nicht direkt vor der Tür, mehr vor dem Grundstück. Ich bin hin, weil es so komisch geparkt hatte. Und ich sah Rot. Überall Rot.“ Leer wirkte der Blick der trüben Augen. Was geschehen war, wusste jeder im Saal. Nur wusste keiner, wer die Tat begangen hatte. Ihre Aussage war nun endgültig beendet. Nun hatte der Anwalt des Beschuldigten die Möglichkeit, die Zeugin zu befragen. Der Staatsanwalt beäugte den jungen Mann misstrauisch. Das Kreuzverhör begann.
Doch die paar Fragen führten nicht zum gewünschten Ergebnis, während Frau Gerold immer weniger von dem wusste, was sie eigentlich äußerte. Ihre Antworten wühlten die Geschichte zwar neu auf, aber ihre Äußerungen stimmten immer weniger überein. Fritz´ Herz dagegen klopfte in seiner Brust, während er von außen hin ruhig wirkte.
„Es wäre wirklich gut zu wissen, ob Sie, Frau Gerold, meinen Mandanten als den Beschuldigten erkennen. Sie haben bei der Polizei vor Ort geäußert, den Beschuldigten als Herr Mühlstein wiedererkannt zu haben. Stimmt das?“ Fritz sah zu, wie der Anwalt sich erhob und auf die Antwort wartete. Zögerlich sah Frau Gerold in Richtung des Beschuldigten, wiederum sah man ihr an, dass sie ihre Aussage von damals revidieren würde. Doch sagen konnte sie nichts. Wie ein Häufchen Elend knickte die alte Frau unter dem Druck ein und sackte in dem Stuhl zusammen. Sie war am Ende.
„Das ist wirklich das Tüpfelchen auf dem i, wenn wir das wüssten!“, sagte die Richterin schließlich und räumte ein, sich mit den Schöffen zurückzuziehen.
Einige Stunden später sammelten sich wieder alle im Saal, während Fritz aufstand und zusah, wie die Richterin das Urteil sprach. Die Beweise waren zu belastend, auch wenn keine Person den Beschuldigten wirklich gesehen hatte. Erschrocken erkannte Fritz, zu wie vielen Jahren Haft diese Tat geführt hat. Nie wieder Freiheit für seinen Bruder Hannes. Und beistehen konnte er ihm auch nicht mehr. Während sein Bruder vollkommen geistesabwesend dem Urteil lauschte, grinste Fritz in sich hinein. Hannes sah kurz auf, lächelte schwach und sah ihn entschuldigend an. Als würde es ihm leidtun, nicht mehr für Fritz da zu sein.
Der Verurteilte wurde aus dem Saal gebracht. Fritz sah sich um und lächelte zufrieden, als er auf dem Weg zum Auto die Tat Revue passieren ließ. Das Schicksal war ihm hold gewesen, alles war genau so eingetreten, wie er es gewollt hatte. Wirklich dumm für Hannes, wenn es keine Zeugen gab und Hannes und Fritz sich glichen wie ein Ei dem anderen.