Die Frau musterte erst das rote, dann das blaue Kleid. Immer abwechselnd hob sie es an ihren Körper vor den großen Spiegel im Gang und schien abzuwägen, welches ihr nun besser stand. Das blaue Cocktailkleid mit V-Ausschnitt und figurbetonter, oder lieber das rote kurze, das nur bis zu den Knien ging, dagegen mehr Beinfreiheit hatte, hochgeschlossen und mehr Rücken zeigte, dagegen aber ein wenig schüchterner aussah. Ihre Haare waren bereits hochgesteckt, fixiert mit verschiedenen Klammern und Perlen. Fehlten nur noch der Schmuck und die passenden Schuhe.
„Man, ist die heiß“, knackte es im Ohr und Bansky fluchte lautlos. Ripper ließ sich wieder aus, kommentierte jeden Mist und blockierte damit den Funkkanal.
„Halt die Klappe, Ripper.“ Tina äußerte sich genauso genervt wie Bansky war. Immer diese dummen Sprüche.
„Wieso? Die ist doch heiß. Selbst du würdest sie nicht von der Bettkante schieben, T.“ Rippers Lachen schallte noch nach, bevor es erneut in der Leitung knackte.
„Schon, aber das hat nichts mit dem Auftrag zu tun. Also konzentriere dich!“ Tina, benannt nach ihrer wunderschönen Singstimme und ihrer Lieblingssängerin Tina Turner, drückte nur einmal auf den Knopf und quittierte damit Ripper, dass er entweder recht hatte oder sie nicht weiterreden wollte. Banksy dagegen schwieg und lugte erneut durch die Linse. Als er seine Beobachtungen gemacht hatte, drückte er an der Schulter die Taste.
„Zielobjekt bewaffnet sich. Messer am Oberschenkel, Waffe im Holster an der linken Hüfte. Grünes weites Kleid, schwarze lange Jacke. Nun außer Sichtweite, Laufrichtung Norden.“
„Danke, Banksy. Ich sehe sie. Ist nun am anderen Fenster und richtet ihre Oberweite.“ Mal wieder nonchalant, der gute Ripper.
„Und wieso kümmert uns das?“, fragte Tina und wirkte nun leicht reizbar. Als Fahrerin ihres Drei-Mann-Teams war sie auf die Informationen von Ripper und ihm, den Scharfschützen, angewiesen. Tina hatte das Zielobjekt nur auf Bildern gesehen, aber Aussehen ließe sich leicht verändern. Gerade Frauen konnten sehr leicht untertauchen.
„Damit du denkst, du bist live dabei!“ Wie nett, Ripper. Wirklich.
„Mich interessieren wichtige Infos, keinen Bockmist wie das. Vergesst nicht, dass ist eine Mörderin! Auch wenn sie mit Gift arbeitet, heißt das nicht, dass sie für uns nicht gefährlich ist.“
„Schon. Vor allem, wenn man bedenkt, dass ihre Todesliste letzte Woche die hundert geknackt hat. Drogendealer, Politiker, Mütter. Die Frau macht vor nichts Halt.“ Ripper pfiff einmal durch, Bansky erschrak und ließ fast seine Waffe fallen. Fluchend stellte er den Funk leiser, während in seinen Ohren der Laut widerhallte.
„Ripper, wohin?“, mischte sich Banksy in die sinnlose Diskussion.
„Zielobjekt geht nun aus dem Haus Richtung Garage. Sie geht zur Feier. Tina, dein Auftritt.“ Die einzig weibliche im Team meldete ihr Verständnis, dann war der Kanal wieder stumm.
Angespannt wartete Bansky auf Tinas Zeichen. Dieser Auftrag war so oder so riskant genug, und allein die Tatsache, dass ihr Zielobjekt eine Mörderin war, machte die Sache nicht einfacher. Und Mörder wussten, dass sie gejagt werden. Ihr Kopfgeld betrug eine beachtliche Summe und so paranoid, wie diese Frau war, grenze der Erfolg dieser Mission an ein Wunder. Es war wahrscheinlicher, dass Katzen fliegen lernten, bevor sie diese Frau erledigen konnten.
In der wochenlangen Planung hatte sich ein Fenster aufgetan. Ihr Zielobjekt wollte zu einer Gala, einer Wohltätigkeitsveranstaltung. Banskys Team vermutete stark, dass heute ihr Zielobjekt vorhatte, einen weiteren Mord zu begehen. Wer das Opfer diesmal war, was schwer auszumachen. Viele Berühmtheiten würden kommen und bevor sie das Opfer schützten, war es einfacher, weniger Aufmerksamkeit zu erregen und die Dame vor dem Eintreffen am Veranstaltungsort zu erledigen.
Es dauerte einige Minuten, bis das Funkgerät wieder knackte und eine weibliche Stimme erklang.
„Hallo, Bansky?“ Das war Tina. Bevor die Finger die Funktaste bestätigen, wartete er ab. Dann summte das Funkgerät und eine dreifache Sechs war zu sehen. Verflucht.
Er packte nichts zusammen, ließ alles stehen und liegen und rannte, was das Zeug hielt. Schneller, als er konnte, erreichte Bansky die Garage, während er Tina erblickte. Sie lag am Boden, das Zielobjekt über ihr stehend, eine Waffe in der Hand. Tinas Waffe. Der Lauf zeigte auf Tinas Kopf.
Mit erhobenen Händen trat er langsam auf die Dame in Grün zu, redete nicht und setzte eine ruhige Miene auf. Ripper wäre in der Nähe und würde zu ihm treffen, doch jetzt wäre er die nächsten Minuten allein mit ihr.
„Fiona, ich möchte Ihnen nicht wehtun.“
„Und wieso beschattet ihr mich dann?“ Ihre Stimme war butterweich, ihre Lippen voll und das Lächeln so perfekt echt, dass es schwer war zu sagen, wann sie schauspielerte und wann nicht.
„Wir ziehen ab, wenn sie meine Kollegin in Ruhe lassen.“ Ein Versprechen, dass er halten konnte. Der Finger am Abzug wurde leicht gekrümmt und Banskys Herz klopfte mit einem Mal wieder. Solche Situationen hatten sie tausendmal geübt und bereits einige Male im echten Leben hinter sich. Allein auf der Basis von Fionas Laune hing Tinas Leben nun am seidenen Faden. Wenn Fiona keine Lust hatte und launisch war, dann würde es heute eine Tote mehr geben. Doch Bansky schätzte ihr Zielobjekt nicht so ein, dass sie einfach tötete, um zu töten. Vielmehr vermutete er, dass Fiona aus bestimmten Gründen Gift verabreichte.
„Wer ist heute Ihr Opfer?“
Lenk sie ab, rede mit ihr, sorge dafür, dass du Ripper Zeit verschaffst, redete er sich selbst ein.
„Interessiert Sie das? Soso. Nun, leider spreche ich mit Fremden nicht über meine Arbeit. Aber gut.“ Sie lächelte erneut und legte den Kopf schräg. „Man sagte mir, ich bin zu unkonventionell und sollte doch etwas Neues ausprobieren. Und ich habe bei meinem jetzigen Auftrag leider keine andere Wahl, als das hier zu benutzen.“ Sie wackelte mit der Waffe in der Hand und strahlte wieder, als wäre ihr Lebenssinn mit einmal so klar wie die Sonnenstrahlen am Morgen.
„Und deswegen, weil ich kein Gift verabreichen kann, musste ich kreativ werden. Mein neues Opfer war sehr vorsichtig. Und es hatte lange gedauert. Sehr lange. Und nebenbei noch ein so hohes Preisgeld, dass ich mich einige Zeit auf den Südseeinseln verziehen kann. Vielleicht kaufe ich mir endlich mal meine eigene Insel. Das hätte doch was, nicht?“
Bansky ließ sie reden, versuchte die Informationen aufzunehmen und Gleichzeitg nach seinem Kameraden Ausschau zu halten. Doch Ripper blieb in den Schatten. Gut, dachte er.
„Und ganz nebenbei“, die Waffe wurde erhoben und auf Bansky gerichtet. „Herzlich Glückwunsch, Sergeant Pears. Sie haben gewonnen.“ Fionas Lächeln glich einem Zähnefletschen.
Mit Schreckgeweiteten Augen sah Bansky zu, wie aus den Schatten eine Gestalt trat. Durch die Hautfarbe war er im Dunkeln schlecht zu erkennen, doch Bansky erkannte seine Leute. Das Lächeln des Dreißigjährigen wirkte so echt, so fröhlich so…verliebt. Oh nein.
„Ripper“, flüsterte Bansky und nahm die Hände herunter. Es hatte keinen Sinn mehr.
„Ja, Sergeant. Willkommen in der Realität. Und viel Spaß bei den Toten.“
Dann wurde der Abzug gedrückt. Ein Schuss löste sich. Und Fiona stützte zu Boden, während in Rippers Brust ein Messer herausragte. Tina keuchte, sah ihren Sergeant an und nickte einmal. Bansky verhalf ihr auf die Füße, danach sahen die Toten an.
„Wieder einer der verdammten Liebe verfallen. Idiot.“ Tina trat zu ihrem Ex-Kameraden, riss das Wurfmesser herauf und gab es ihrem Boss. Dann drehte sie sich um und wollte bereits gehen, doch Bansky blieb einige Sekunden und sah in die toten Augen seines Freundes.
„Er war verliebt und dumm, Bansky.“ Tina trat näher, gab ihm einen Kuss auf die Wange und zog ihn mit sich.