CN: Blut, Tod, körperliche Gewalt
„Das soll also der gefürchtetste Kerl ganz Preußens sein?!“ Das sofortige Auflachen in Erics Ohren könnte nicht verächtlicher sein. Das harte Holz unter ihm schnitt die blasse Haut auf den Knien auf, die Hände zitterten unaufhörlich unter der Panik, die sich in ihm aufmachte.
„Also, Kleiner, du bist also der Prinz Preußens, wie?“ Eigentlich entstammte Eric aus einer Zweigfamilie. Mit dem Königshaus selbst hatte er wenig bis gar nichts zu tun. Dennoch waren die teuren Kleider an seinem Leib der beste Beweis, dass Eric von Adel war.
„Prinz Maximilian Arthur Christian Frederick d´Agustino. Wobei ich nicht ganz verstehe, wieso dein Name so seltsam klingt. Nicht ganz deutsch, auch nicht ganz...weiß nicht. Es könnte...“, ein Klatschen fuhr Eric durch Mark und Bein. Der neben ihm brabbelnde Mann hatte von dem, der als Erster gesprochen hatte, eine Ohrfeige bekommen. Wie barbarisch. Eric schaute auf, sah in ein Gesicht voller Narben und einem breiten Kinn, versteckt unter einem geflochtenen Bart. Seine grauen Augen weiteten sich. Es könnte ein Pirat sein, ein Räuber, ein gefürchteter Mann, der nur hinter den Schätzen her war, die Erics Familie hütete. Doch da hatten sich der Räuber getäuscht.
„Meine...meine Familie ist tot.“ Das Stammeln in seiner Stimme konnte Eric nicht unterbinden. Die Bilder vergangener Stunden hingen ihm in Kopf, als wäre es erst gerade eben geschehen.
Der Bärtige beugte sich vor, um dem Jungen wohl noch mehr Angst zu machen. Doch diese Gestalt, diese schwarze Bestie mit Umhang und Nebel, mit einem Lächeln so grausam wie der Tod selbst, war schlimmer gewesen als dieser lebendige Man vor ihm.
„Erzähl, Kleiner. Was ist denn passiert?“ Eric nickte, nicht wissend, was er damit anrichtete. Er würde jemand diese Erinnerung mitteilen müssen, damit keiner mehr diese jetzige Ruine voller Schutt und Leichen, die einst sein Zuhause gewesen war, betreten würde.
„Es war ein Mann, nicht größer als Ihr selbst. Diese schwarzen Haare wie die Nacht und die dunkle Haut schimmerte golden, als er plötzlich den Saal betrat. Wir waren gerade am Speisen, als meine Schwester aufsprang und sie mit einem Schrei...“, er schluckte, seine Lippen bebten. „Sie wurde entzwei geteilt, als glich sie einem Grashalm. Meine Eltern kamen sogleich dran. Ich konnte von meinem Versteck aus sehen, wie die verdorrten Leichen wie getrocknetes Obst niederfielen. Der Mörder schrie nicht, lachte nicht, schwieg nur, suchte etwas. Vergeblich.“ Dieses plötzliche Zerrütten der Decke über ihm brachte Eric dazu, zu fliehen und sein Fluchtinstinkt hatten ihn schließlich vollkommen ausgelaugt hierhergebracht. In eine alte Taverne, befüllt von Gaunern und Dieben. Vielleicht in der Hoffnung, dieses Gesindel würde dem Monster Einhalt gebieten.
„Nur das?“, sagte der Bärtige und setzte mit dem Krug an. Als er wieder absetzte, zitterte Eric imkern noch. Er nickte apathisch. „Nur das berichtet ein Knilch, der nicht einmal mit seinen Neunzehn ein ganzer Kerl ist. Hättest wenigstens Kämpfen können…“
Verächtlich spuckte der Bärtige auf den Boden und stand auf. „Es ist doch wirklich erbärmlich, was unser Land regiert. Nur Hosenscheißer und Speichellecker.“ Die Klinge lag auf den Tresen, als er den Griff nahm und die Spitze Richtung Eric hob. Dieser wollte zurückweichen, doch ein Tritt beförderte ihn direkt vor die Füße des Mannes, der ihm gleich den Todesstoß versetzen würde.
Das fiese Lächeln durch die langen Barthaare und die vergilbten Zähen sagten genug aus. Er lechzte nach Vergeltung, die er sich wohl durch Erics Tod versprach. Der Junge schüttelte den Kopf, unfähig, sich noch zu bewegen. „Immerhin kann ich dich nun vom Antlitz der Er…“
Ein Gurgeln. Blut spritzte. Und der Kopf des Mannes landete auf Erics Schoß. Ein Schrei quoll sich aus dem dürren Leib hervor, bevor das Licht im Raum schwand wie eine plötzliche Nacht. Stimmengewirr, Schreie hallten in Erics Ohren, Stille. Keine Sekunde später berührte ein Finger sein Kinn. Ein Schmatzen erinnerte Eric daran, wie sehr er sich zitternd an den Kopf des Toten vergriffen hatte. Der Daumen presste sich an dessen Mundhöhle, der rechte Zeigefinger nahe dem Auge. Mit Schreck schmiss Eric den Kopf weg und krabbelte durch die Dunkelheit zurück, irgendwas suchend, dass seine Finger finden würde. Ein leises Lachen raunte in seinem Kopf, während er an einen Leib stieß. Das Tasten suchte nach Lebenszeichen, doch vergeblich. Erics Tränen rannen unentwegt hinunter, sein letzter Wille war es, nicht ängstlich zu sterben. Doch genau diese Panik kam hervor und er kauerte sich gegen den Toten, der hinter ihm auf dem Boden lag. Was sollte er nur tun?
Wieder dieser Finger an seinem Kinn, lang und grazil, der leichte Windhauch an seinem Körper. Trocken und warm zugleich. Eine Träne wurde von der Wange gewischt, eine andere Hand legte sich auf das braune Haar, als würde man Eric streicheln wollen. Eric konnte nicht atmen, nur hoffen, nur weinen.
„Sieh an, der Junge“, diese Stimme kratzte wie Krallen über eine Tafel. Wie ein Schwert über Stein. Wie der Tod über die Haut. „Folge mir“, hauchte sie nun. Eric wollte schreien, doch an seinem Brustkorb zog etwas. Nein, es drückte. Es-
Sein Herz zersprang, als ein fester Griff sich um das Organ schloss. Kurzzeitig pumpte es, dann zog eine Hand es aus der Brust. Eric spuckte Blut, seine Sicht verschwamm, als würde er in der Dunkelheit etwas erkennen können. Er schwankte, ihm wurde schwindelig. Diese Schmerzen, dieses Loch, kalt, es war so kalt.
Dann kippte er, wollte auf den Boden krachen und allein sein. Doch der plötzliche Druck an der gleichen Stelle durchbrach diesen Schwindel und schoss ihn gradewegs in die Ohnmacht.
Ein Blinzeln. Tod. Eric war tot, dass wusste er im ersten Moment. Die Hand schoss zu seinem Brustkorb, doch dort fühlte er nur verkrustete Kleidung. Unter dem Oberteil spürte seine Narben. Er fuhr die Linien entlang. Ein Rechteck. Genau dort, wo sein Herz war. Keuchend verstand er erst jetzt, was geschehen sein musste. Sein Magen knurrte, er hatte Hunger.
Sein Blick fiel auf einen Mann neben ihm. Seine Kehle war unversehrt, dessen rasselnder Atem so laut in Erics Kopf, als wäre seine Ohren direkt neben dem Mund. Eric stockte. Das rote Rinnsal aus der Nase sah so schmackhaft aus. Tränen rannen Eric über die Wangen, als er alles begriff.
„Willkommen, mein Homunculus“, sagte der geheimnisvolle Tote im schwarzen Gewand, der ihm das Herz aus der Brust gerissen hatte. „Trink!“, befahl er.
Und Eric gehorchte.