„Nein“, keuchte der jemand neben mir, doch ich war selbst zu geschockt, um zu reagieren. Meine Muskeln zitterten unentwegt und meine Augen starrten auf dieses Etwas vor mir, dass niemals er sein konnte. „Das kann nicht...wahr sein.“
Während sich Cassian vorkämpfte und mit schweren Atemzügen zu dem vor ihm liegenden Mann trat, tropfte Blut von seiner frisch verbundenen Wunde an der Seite. Trotz der maskulinen Gestalt hievte sich der massiven Körper Schritt für Schritt nach vorn, litt bei jeder Bewegung. Schmerz durchschoss bei jedem Vortreten die sonst so sanften Züge. Nur das Zucken an seinen Augen verriet, wie geschockt er war. Cassian hatte so viele Kriege durchlebt, so viel Leid gesehen, dass das für ihn eigentlich nichts war. Und doch hielt das vor ihm selbst ihn in Atem.
Ich dagegen saß zusammengesunken neben ihm. Meine Beine waren unfähig, sich zu bewegen. Den Tränen nahe und trotzdem zu geschockt, etwas zusagen oder etwas zu tun. Wie könnte ich auch? Ich versuchte zu verstehen, versuchte zu handeln. Doch jedes sinnhaftes Tun meinerseits hätte zur Folge, dass ich das vor mir hätte akzeptieren müssen.
Rechts fluchte schließlich meine Waffenschwester Judy. Sie hatte sich am schnellsten von uns allen im Griff, durchbrach diese Spannung und den Moment und humpelte zu mir. Ich sah, wie die klaffende Wunde an ihrem Unterschenkel sie am Laufen hinderte, doch sie lebte. Das war alles, was ich mir wünschte. Was zählte.
„Alles gut, Ria?“ Ich nickte abwesend, zwang mich von dem grauenhaften Anblick vor mir weg und ließ mich von ihr auf die Beine helfen. Weil ich mein zierliches Gewicht auf ihr abstützte, knurrte Judy kurzzeitig. Doch ihre Wut hatte nichts mit mir zu tun. Kein jetzt entstandener Zorn hatte mit der Situation zu tun, in welchem Zustand wir uns gerade befanden. Judy klopfte mir auf die Schulter; ein wenig zu grob für die Fernkämpferin. Noch ihren Bogen in der Hand verhalf sie mir, mich wieder zu konzentrierten. Ich schüttelte den Kopf und ging auf Cassian zu, der sich vor dem Leib niedergelassen hatte.
Erst jetzt nahm ich das ganze Ausmaß wahr, dass sich um mich herum gebildet hatte. Wir standen zu dritt auf einer Anhöhe. Hinter mir versteckte der Dschungel Südafrikas seine Geheimnisse vom Rest der Welt, während wir nun einsam auf den Leichnam hinabstarrten. Der Mond schien hell auf einen der wenigen kahlen Stellen, die man mit einem Hubschrauber von der Luft aus entdecken könnte. Kurzerhand erkannte ich das immer noch blinkende Armband an dem Handgelenk unseres Kameraden. Der Alarm war ausgelöst worden, als wir von der naheliegenden Station direkt in den Dschungel gerast waren, inmitten des riesengroßen Irrgartens aus Pflanzen und Natur. Trotz der gebotenen Vorsicht hatten wir die Drohungen nicht ernstgenommen, waren Adrian zur Hilfe geeilt und hatten uns in den Klingen und Waffen unserer momentanen Feinde wiedergefunden. Nur mit knapper Not waren wir entkommen. Und Adrian?
„Adrian, möge der große Stern dich nun in seinen Armen halten“, flüsterte Cassian und kniete sich neben seinen Waffenbruder. Er nahm die Hand, die nicht zerschunden aussah und war den Tränen nahe. Wie es die Tradition verlangte, unternahm der Krieger alles, was er konnte, um Adrian die bestmögliche Reise zu gewähren. Ich sah auf, erkannte durch die Wolkendecke keinen einzigen leuchtenden Punkt, während meine Hände sich zu Fäusten formten.
Hinter mir knackte etwas.
Sofort huschte Judy herum, zog die Sehne zurück und bildete damit einen plötzlich auftauchenden Pfeil im Bogen. Mit der Durchschlagkraft einer Abrissbirne hätte sie mit einem Angriff ganze Bäume gefällt. Sicherlich würde durch ihre Wut und Trauer weitere zu Boden gehen können, doch ich schüttelte nur den Kopf und sah mich um. Keiner der Vögel schreckte auf, keiner der Brüllaffen schenkte uns Aufmerksamkeit, keiner der Schlangen traute sich in unsere Nähe. Das lag an meiner tosenden See in mir, während ich zusah, wie Cassian seine Gebete fast beendet hatte. Völlig versunken in der Bitte, ihn von dem Leid zu erlösen, den seine zerschundene Gestalt offenbarte, knackte es erneut und ein Zweig brach ab. Judy schenkte mir einen nervösen Blick, zeigte mit dem Finger in die Natur und deutete damit auf ein paar Kilometer weiter.
Ich nickte abwesend, stand am Abgrund neben Cassian und ließ meine Wut vollkommen raus. Niemand sagte etwas, als die fliehenden Tiere das Weite suchten und selbst die typisch lauten Geräusche eines Dschungels augenblicklich verstummten. Todesstille durchbrach die Wand aus Angst und Panik, während ich durch meine Sinne in einem Umkreis von zwei Kilometern jedes Lebewesen als leuchtendes Etwas wahrnahm. Wie in Trance fing ich an zu grinsen und stellte den Kopf schräg, als ich erkannte, wie eines der Vögel hektisch mit den Flügeln schlug. Als würde es mich sehen, wie ich ihm auf den Fersen war, blinzelte ich und erkannte, wie die Schwere des eigenen Körpers ihn zu Boden fielen ließ.
Judy griff nach mir, zog mich zurück und schlug mir ins Gesicht. Mit dem auftretenden Schmerz hatte ich gerechnet, aber nicht mit der Faust. Den Magen krümmend hielt ich ihn, keuchte auf und sah den wütenden Cassian an.
„Ria, wir haben bereits ein Blutbad. Hör auf, deine Todesmagie einzusetzen und noch weitere Unschuldige in den Ruin zu stürzen. Das können wir nicht gebrauchen!“ Er stand auf, in seinen Armen der tote Adrian. Ich stapfte abweisend zu ihm, während das Gesicht des Toten aschfahl hinabhing. Genau auf meiner Höhe hielt Cassian inne, ich sah ihn an, erblickte sofort sein Leid und seine Angst und schloss meine Augen.
„Ich kann das nicht“, flüsterte ich geschockt. „Ich...“
„Verabschiede dich“, befahl Cassian und trat näher. Hinter mir stand Judy und beobachtete die Umgebung. Jederzeit bereit, den Bogen zu spannen und zu schießen. Cassian kam noch näher, während ich die Kälte des Toten spürte. Man dachte immer, der Tod fühlte sich kalt und unnahbar an. Als sich meine Magie in mir regt, und mich zu sich rief, wollte ich einen Schritt zurücktreten. Doch meine Beine hinderten mich, weil mein Verstand wusste, was danach geschehen sollte. Ich nickte, legte meine schwitzige Stirn an die meines Kameraden und schloss die Augen.
„Möge deine Sternenstunde gekommen sein, Adrian. Mögen die Sterne dich aufnehmen und mögest du über uns wachen, bis wir uns wieder sehen.“ Die Sekunden strichen zu schnell vorbei, bis nicht mehr das Bild eines jungen braunhaarigen Mannes mit einem humorvollen Grinsen und offenen Charakter, der mich immer mit offenen Armen empfangen hat, vor mir war, sondern eine zerfetzte Grimasse aus Blut, Sehnen und Hautfetzen. Ich vermisste ihn jetzt schon, während sich der Schock nun endlich legte und meine Tränen ihren Weg fanden. Ich zitterte leicht, als mich Judy ablöste und sie stumm ihre Stirn an die Adrians legte. Sie sagte nichts, doch dachte sich sicherlich viel.
Cassian ging weiter in den Dschungel hinein, drapierte den Leib auf den Boden und vollführte einige Handbewegungen, während Holz und andere Teile hergeflogen kamen. Große Blätter und Äste sollten helfen, den Leib anzuzünden und ihm damit die letzte Ruhe zu schenken. Ich sah nur zu, während Judy auf den Befehl: “Hol es“ reagierte. Das Schwert wurde aus dem Boden genommen. Das schwere Stück Metall war für Adrian geschmiedet worden. Keiner konnte so mit der Klinge so gut umgehen wie er.
Das Stück Metall glitzerte traurig in der Sonne, als wisse es, was seinem letzten Besitzer passiert war. Ebenso still wie auch zuvor legte Cassian die Waffe auf die Brust, und sah zurück. Sah uns in die Augen.
„Bereit?“ Die Frage lag schwer auf mir. Während die anderen beiden nun sahen, dass der Leib in Flammen aufging, würde ich dank meiner Magie mehr sehen. Ein Schnipsen ertönte, dann entfachte ein Funke ein Meer voller Wärme und Geborgenheit. Ich sah die Konturen in dem von Cassians Leib kontrollierten Flammen, wie sie den Körper umschlungen und zu etwas Neuem verbrannten. In meinem Geist erwachte meine Magie, als sich die schwarzen Konturen leuchtend erhoben und sich zu einem Ball formten, nicht größer als ein Tennisball. Über dem Rumpf schwebte die Kugel, vollkommen uneingeschränkt von der Hitze der Flammen und blieb einige Momente, als würde es sich verabschieden wollen. Doch die Seelen der Verstorbenen redeten nicht. Nicht mehr.
Das Licht erhob sich empor, schwebte wie die Funken des Feuers in den Himmel zu den Sternen. Während Judy tief Luft holte und sich Cassians Miene verhärtete, sah ich hinauf und folgte dem leuchtenden Punkt bis hin zu der schweren Wolkendecke. Kurz hielt es noch inne, drehte sich um die eigene Achse und formte mit den hinter sich herziehenden Linien ein Wort, das in der alten Sprache verfasst war. Die zwei Kreise und die verbundene Linie sah aus wie ein verzerrter Notenschlüssel, doch innerlich zog sich alles in mir zusammen. Sofort keuchte ich auf, dass die anderen beiden als meine persönliche Trauer empfanden.
Adrians Seele hatte sich an die letzte Aufgabe gebunden, die ein Krieger zu absolvieren hatte: Sich auf die letzte Reise zu begeben, zu den Sternen aufzubrechen, zu den Urahnen zu kommen und einer zu werden. Keine der Seelen konnte sich von diesem Willen so einfach loseisen, doch er hatte es kurze Zeit geschafft, seinen Willen durchzusetzen. Dann verschwand der schwebende Stern zu seinen Kameraden, während die Flammen lichterloh vor mir die körperlichen Überreste verbrannten.
„Er sagt Danke“, flüsterte ich. Judy hielt inne und sah mich an. „Wie meinst du das?“
Cassian verstand schneller, seine Züge wurden noch eiserner.
„Er hat sich dir gezeigt. Und er hat dir etwas mitgeteilt, oder?“ Ich nickte.
„Ja, den Namen seines Mörders.“