Genervt huschten Henris Augen von links nach rechts, als seine Klassenkameraden unruhig von einem Platz zum Nächsten huschten. Immer wieder kicherte jemand oder hustete. Einmal sogar hörte Henri selbst das Kratzen seines Nebensitzers Christoph, als dessen selbstgestrickter Rollkragenpulli mal wieder juckte. Musste das jetzt sein?
So saßen sie alle mit Frau Rübenseel in einem Stuhlkreis, jeder gespannt, was die Lehrerin nach dem Wochenende zu verkünden hatte. Henri wusste, dass an jedem Montagmorgen die Klasse zusammenkam und jeder von seinen Erlebnissen erzählen durfte. Beginnend mit Julia, die fröhlich von einem Reitunterricht erzählte, begann die Erzählstunde. Wie toll der Ausritt in der Natur doch sei, sagte sie. Henri selbst hörte nur mit halbem Ohr zu. Dafür atmete Christoph neben ihm viel zu laut in sein Ohr.
„Reiten ist voll cool!“, kicherte Henris Nebensitzer und zupfte an dem Oberteil. „Findest du nicht?“
Henri rollte mit den Augen. Er lehnte sich mit den verschränkten Armen gegen den unbequemen Holzstuhl und ließ sich von den langweiligen Geschichten seiner Mitschüler berieseln. Er hatte keine Lust auf Schule, also wollte der Zehnjährige auch nicht hier sein. Wer bitte machte noch einen Stuhlkreis? Voll öde!
„Also, ich habe nichts gemacht“, sagte Vanessa rechts von ihm.
„Aber ihr habt doch einen Bauernhof, nicht?“, fragte Frau Rübenseel mit gespieltem Interesse. Eigentlich vergisst die Lehrerin alles gleich wieder, was ihre Schüler erzählen. Davon war Henri überzeugt. Er kannte dieses Gesicht von seiner Mutter, die ihn jeden Nachmittag fragte, wie die Schule war. Doch egal, was der Sohn zum Besten brachte, die Mutter fragte nicht weiter nach.
Vanessa nickte und schob ihre Brille zurecht. „Ja, eine Kuh hat gekalbt und wir waren bei der Geburt dabei. Aber…das Kleine hat es nicht geschafft“, gab sie traurig zu. Dann zuckte sie mit den Schultern. Frau Rübenseel täuschte ein trauriges Gesicht vor, als Vanessa weiter von einem toten Tier erzählte.
Wieder zupfte Christoph an Henris Ärmel. „Das ist traurig, aber ein Bauernhof ist klasse. Ich war da mal mit Oma und Tante.“ Während links von ihm von einem Bauernhof geschwärmt und rechts von toten Tieren berichtet wurde, bekam der Junge nicht mit, wie er nun mit dem erzählen dran war.
„War am Wochenende bei Papa“, sagte er nur und schwieg anschließend. Frau Rübenseel sah ihn mit einem angedeuteten Lächeln an, doch er sah stur und grimmig zurück.
„Habt ihr etwas gemacht?“, fragte sie sanft.
„Nö“, meinte Henri und schaute weg. Den Streit zwischen seinen frisch geschiedenen Eltern wollte er nicht vertiefen. Schließlich kam Christophs Gelegenheit, der schon nervös von einer Pobacke auf die andere ruschte.
„Und du, Christoph? Wie war dein Wochenende?“
„Wir haben gebastelt!“, sagte der Junge stolz und hob einen kleinen Papierdrachen in die Höhe. Henri hatte das Stück Etwas gar nicht bemerkt und ein Drache konnte das niemals sein. Es sah eher aus wie ein kotzender Vulkan.
„Und...“, Christoph stockte, als der Drache von den Augenpaaren misstrauisch beäugt wurde. „…mein Hamster ist gestorben.“ Gab es nur tote Tiere am Wochenende?
„Oh, das tut mir leid…“, sagte Frau Rübenseel. Diesmal klang es ein wenig mitfühlender. Henri sah den Jungen im Rollkragenpulli an. Dieser schaute zu Boden.
„Nein, das ist okay. Das ist nicht so schlimm wie bei Onkel gerade.“
Die Hintergrundgeräusche verstummten Mal zu Mal, als Christoph ohne zu Fragen weitererzählte.
„Weil bei Onkel ist gerade wenig Wasser da und das Krankenhaus in Charkiw ist auch kaputt. Er sagte am Telefon irgendwas von bösen Menschen in Land, aber Oma und ihm geht es gut.“ Die Finger spielten nervös mit dem Drachen, der in den Fingern beinahe zerknüllt wurde. Doch Christoph schien derart seinen Erinnerungen verfangen, dass er das gar nicht bemerkte. „Was mit Olli, meinem Hund unten, ist, weiß ich nicht. Aber dem geht´s sicher auch gut. Nur Katherina, die Nachbarin, hat´s nicht…“
Er stockte, dann hob er trotzdem den Kopf. Ein Lächeln zauberte sich auf sein Gesicht.
„Oma hat diese Woche Geburtstag und sagte, sie singt für mich, weil wir nicht zu ihr kommen können. Das habe ich dann auch gemacht. Heute hat sie Geburtstag, also habe ich nach dem Aufstehen ein Lied gesungen. Ihr Lieblingslied. Das gibt es auf Deutsch gar nicht. Und ich habe zu ihr gesagt, dass ich Krieg doof finde und wir lieber alle basteln sollen.“
Ein paar Mädchen lachten, doch Henri sah in den blauen Augen ein Funken, den er nicht beschreiben konnte. War das Trauer oder Stolz in Christophs Augen? In Henris Kopf war alles leer, als er nun an Christophs Ärmel zupfte.
„Ich bastle mit dir heute!“, sagte Henri und meinte es auch so.