Eine Fortsetzung der Geschichte "36 -Sonne im Herzen":
Die Sonne quetsche ihre letzten Sonnenstrahlen durch die dichten Baumkronen der Tannen, während die kargen Laubbäume ihre Blätter zu Füßen aufgereiht hatten. Keiner der hier arbeitenden Menschen achtete auf die Sauberkeit der Wege, während die bereits staubtrockenen Blätter am Boden bei jedem Schritt raschelten. Bereits fast knöchelhoch sammelten sich die Schichten voller orangenen und roten, bereits teils braunen, Farbwundern, während die Schwarzhaarige nach ihrem Ziel Ausschau hielt. Je tiefer sie in den Wald wagte, umso mehr ähnelte er einem Waldfriedhof. Und umso größer wurde die Panik in ihre bereits vor Kälte steifen Gliedern. Wenngleich der Winter sich bisher noch in diesem Teil der Natur zurückgehalten hatte, fror sie trotzdem. Die Dämmerung brach bereits an, während sich Yesim erneut auf ihrem Smartphone erkundigte. Der Standort, den ihr Max zugeschickt hatte, war keine fünfhundert Meter mehr entfernt. Sie sammelte ihren Mut und fühlte sich trotzdem mal zu mal unwohler.
„Was ich nicht alles tue...“, murmelte sie vor sich hin, während die aufbauschenden vertrockneten Überreste der Bäume ihre hektischen Schritte zu verdeutlichen schienen. Das Rascheln klang wie ein Hohn. Würde sie allerdings stehen bleiben, wäre diese Leere in ihrem Kopf, die sie beschlichen hatte, seitdem sie sich zu Max aufgemacht hatte.
Während die letzten Strahlen den Himmel noch blau färbten, erkannte Yesim endlich das kleine weise Gebäude zwischen den dicken Baumstämmen. Ein kleiner Trampelpfad führte sie zu ihrem Ziel, während ihr Navigator ein akustisches Signal gab.
„Sie sind an ihrem Ziel. Es befindet sich auf der linken Seite.“ Die weibliche Roboterstimme schien ihr einziger Begleiter zu sein und hier war sie nun verstummt. Einsam war sie nun, während diese beängstigende Stille den Moment erfüllte. Kein Vogel piepte, kein Eichhörnchen kletterte über die Winde, kein Tier raschelte in dem Laub auf der Suche nach Nahrung.
„Danke“, murmelte Yesim geistesabwesend, während ihre linke Seite eine große Tanne schmückte. Sie wuchs ein wenig schräg, während der Trampelpfad rechts um das Gebäude herumging und an einem kleinen Schuppen endete. Das Handy verschwand in der Manteltasche und Yesim sondierte die Lage.
Keine Menschenseele kam aus dem Gebäude, kein bekanntes Gesicht empfing sie hier in dieser Einöde. Wie Yesim vermutete und anhand der Zahlen an den Bäumen richtig geraten hatte, handelte es sich um einen der Waldfriedhöfe. Doch was Max, trotz Naturliebhaber, hierher verschlagen hatte, konnte sich Yesim nicht begreiflich machen. Sie dachte an einen schweren Verlust eines Liebenden und Max hatte vielleicht keinen, bei dem er sich ausheulen konnte. Vielleicht deshalb die hektische Dringlichkeit in seiner Stimme? Yesim war derart überrumpelt worden, dass ihr ein NEIN zwar auf der Zunge lag, wiederum sie es aber nicht übers Herz brachte, einen Hilfesuchenden einfach abzuweisen, ohne zu wissen, was in ihm vor sich ging. Wenngleich sie sich seit der dreimonatigen Beziehung und sehr wenig Zweisamkeit beide sich nur noch entfremdet hatten, wollte sie dem Moment eine Chance geben. Also holte Yesim viel Luft und ging in die kleine Kapelle.
Der äußere Eindruck des Gebäudes täuschte nicht darüber hinweg, wie alt die Kapelle wirkte. Wie auch die Fassade bröckelte, war ebenso die Inneneinrichtung sehr einfach und spärlich aufgebaut. Auf den Holzbänken, jeweils nur rechts und links in drei Reihen aufgestellt, waren alte Kerben und das Holz zerkratzt. Die Lichter strahlten so gut wie kaum und die metallenen kirchlichen Zierwerke an den Wänden schienen verrostet. Einzig die modrige Luft zeigte Yesim, wie selten jemand hier war.
Der Gang führte direkt zu einem aufgestellten Holzkreuz auf einem einfachen Altar, das von dem Dämmerlicht bestrahlt wurde. Durch das Buntglasfenster wirkte der dunkle Raum ein wenig freundlicher, aber die Winterkälte zerriss jede angenehme Stimmung. Eisige Stille legte sich über die einzelnen flackenden Kerzen im hinteren Raum, während die Schritte ihrer Stiefel allein die Toten hätten wecken können, so laut kamen sie Yesim vor.
Ein wenig genervt wie auch angespannt entnahm Yesim, dass keine Menschenseele hier auf sie wartete. Einen Hinterhalt vermutete sie nicht, aber es gab genug Verrückte auf dieser Welt. Deshalb wählte sie erneut Max´ Nummer, vergaß allerdings, dass die Verbindung sofort unterbrochen wurde. Richtig…unterdrückte Nummer.
Hinter ihr kratzte etwas auf dem Steinboden und Yesim fuhr herum. Angespannt und mit flachem Atem lauschte sie in die Dunkelheit, doch ihr Verstand spielte ihr vor, hinter jedem Schatten eine grausame Gestalt entdecken zu können. Doch die Schwarzhaarige machte sich nicht viel aus Mythen und Legenden, wenn sie doch selbst diejenige war, die bei den grusligsten und grausamsten Horror-Szenen lachte wie ein Kleinkind.
„Hallo?“, fragte sie dennoch in die Stille. „Max, hör auf mit dem Mist!“
Direkt danach erklang erneut das Kratzen. Hinter dem Kreuz? Doch dahinter verbarg sich nur Leere und Stille. Yesim schaltete die Taschenlampenfunktion ein, während der helle Strahl ihr keine weiteren Gestalten offenbarte. Sie war wirklich allein in dieser Kapelle. Allerdings wurde es ihr zu bunt und aus der anfänglichen Panik wuchs die Wut. Was bildete sich dieser Max ein?
Ein wenig stürmischer als gewollt trampelte Yesim daher aus dem Gebäude und fand sich in der Nacht wieder. Sie wollte gerade den Weg wieder in Richtung U-Bahn gehen, als ein erneutes Räuspern sie innehalten ließ.
„N´ Abend, Yesim“, säuselte eine ihr bekannte helle Stimme. Sofort fuhr sie rum und wollte Max anmaulen, der sich von links kommend wohl im Schuppen versteckt hatte. Doch ihr Wutschwall endete in der Sekunde, als sie ihn erblickte. Sie hatte einen gelockten Schönling erwartet, der in grünen Kleidern und lässig wirkendem Grinsen an einem Baum lehnte, als wäre er selbst ein natürlicher Teil des Waldes.
Doch vor ihr stand ein Typ, der ein wenig zu breit wirkte für Max. Die Haare waren schulterlang, immer noch leicht gewellt, aber dunkler. Sie tippte auf ein Straßenköterblond, nicht das helle Goldblond wie früher. Die ledernde Aufmachung seiner Kleidung passte nicht zu dem ruhigen Gemüt ihres Ex, während die in den Hosentaschen steckenden Hände seine typisch saloppe Art nur noch besser zur Geltung brachten.
Der Abstand zwischen ihnen betrug wenige Meter.
Und doch war das nah, viel zu nah.
„Was ist?“, giftete Yesim ohne viel Federlesen. Max lächelte, doch das konnte Yesim in der Dunkelheit nur erahnen. Seine schwarze Kleidung schien die Finsternis zu schlucken, während er selbst die Nacht zu sein schien.
„Wie gesagt, ich habe ein paar Probleme. Und für die Lösung brauche ich dich.“