Fortsetzung zu Kapitel 54:
CN: Blut, Tod
„Bring Sieee mirrrrr“, hallte es in meinem Kopf. Er explodierte beinahe. Hohe Pfeiftöne mit einer Mischung, als würden Krallen über Tafeln kratzen, schallten in den Ohren und zerriss meine Wahrnehmung. Ich hielt es kaum aus.
„Hel, bring Sieee mirrr.“ Immer wieder der gleiche Satz, immer wieder die gleichen Geräusche. Mein Trommelfell platzte und ich hörte alles nur noch dumpf. Dennoch konnte ich die Stimme nicht ausblenden. Tränenverschleierter Blick suchte in der Schwärze nach den blauen Augen. Doch sie waren überall.
„Nein! Niemals!“ Das Wort kam über meine Lippen, als wäre ich es nicht selbst. Jemand sprach durch meinen Mund, jemand nutzte meinen Körper, der sich bewegte, versuchte aufzustehen. Ich riss mich am Riemen und biss mir auf die Lippen, bis ich nur noch Eisen schmeckte.
Plötzlich riss ich die Augen auf, hielt mir die Ohren zu. Blut rann aus der Nase, die Ohrmuschel war verklebt.
Langsam!, ermahnte ich mich und fokussierte meine zerstreuten Sinne. Es ging, wenn ich mich auf meine Atmung konzentrierte. Mein Herz schlug stetig schnell, doch irgendwie auch in einem gleichmäßigen Takt. Die Dunkelheit schwirrte nach wie vor um mich herum, doch die blauen Augen waren nur noch ein Paar schwebender Lichter, die sich stumm auf mich richteten. Sie leuchteten das Gesicht aus.
Viktor schwieg, oder wer auch immer das war. Dagegen schwebte nun eine Gestalt vor mir, die wie eine ausgezerrte Seele aussah, die nach etwas suchte. Ich konnte mich kaum bewegen, so sehr schockierte mich der Anblick. Die messerscharfen Zähne waren so dünn wie die Luft im Raum, die Nase so flach wie meine Atmung. Allein die Schultern, die ich kaum noch erblickten konnte, sahen so ausgemergelt aus wie ein Hungernder, bis mir auch einfiel, was mir gleich blühen würde.
Allein die kräftig leuchteten Augen standen im Widerspruch zu dem Wesen, zu Viktor.
„Nein“, bettelte ich, sackte in mich zusammen. Tränen würden mir nicht helfen, doch ich bat um Gnade. „Ich…“, meine Kehle war staubtrocken und ich schniefte. „Ich habe -“.
Ein Schrei gellte durch den Raum, zerriss die Stille und warf mich um. Auf dem Rücken versuchte ich wegzukrabbeln, doch sofort stieß ich auf eine Topfpflanze. Sie fiel um, das Klirren von Keramik wirkte so surreal wie die Situation selbst. Ein Hauch von Tod, von Verwesung traf mich.
„Du hast sieeee“, zischte Viktor und griff nach meiner Schulter. Sofort schrie ich auf, schluchzte. Meine Schulter würde kalt, eiskalt und die Muskeln schienen sich zu verschieben, Knochen brachen und schob sich erneut zusammen. Dabei spürte ich keine Berührung, lediglich einen Lufthauch und ein Lachen, das nicht menschlich sein konnte.
Die Augen zusammenkneifend, den Mund zu einem atemlosen O geformt, hielt mich eine Hand an der anderen Schulter. Sie brannten voller Kälte. Jetzt schrie ich nicht mehr, ich flehte nur noch und wollte, dass es endete.
Eine Tür flog auf. Licht drang hinein und ein Zischen erklang. Die Kälte wich zurück, doch Wärme trat nicht an ihrem Platz. Kraftlos lehnte ich mich gegen die Wand und sank in die Ohnmacht, die über mich hereinbrach wie eine Lawine.
„Lass sie in Ruhe, Sulter!“ Ein Mann. Es ertönte ein wilder Kriegsschrei, der mich in der Ohnmacht verfolgte. Letztlich erkannte ich nur noch eine dunkle Gestalt, die sich ihren Weg durch das Licht in die Dunkelheit bahnte.
„Helen?“, fragte eine Stimme und stupste mich an. „Hey, nicht schlafen.“
Ich murrte, drehte mich um und bemerkte den harten Boden. Etwas kratzte an meiner Wange. Der Teppichboden eines Büros. Hilflos tastete ich blind um mich herum, griff in etwas Weiches. Blumenerde, wie mir recht spät bewusst wurde. Schwärze. Viktor.
Dann schrak ich hoch. „Hilfe!“, schrie ich aus vollem Hals und krallte mich an eine Schulter. Atemlos tastete ich alles ab, doch an mir war alles dran. Alles, bis auf ein Zittern, das ich niemals mehr würde unterdrücken können.
„Hey“, sagte der Mann erneut und kam näher. Jetzt erkannte ich erst, dass Finn vor mir kniete und mich sorgenvoll musterte. „Alles okay?“
Hinter ihm trat Greta mit finstererer Miene hervor. Sie sah mich an, schaute herab und verzog den Mund. Dann schritt sie lautlos weg, als würde ich es nicht wert sein, angesehen zu werden. Finn dagegen beachtete Greta nicht. Ich dagegen starrte ihr nach, atemlos und verwirrt.
„Sulter?“, fragte ich, als wäre es das einzige Wort, das mir einfiel. „Viktor…er ist..“. Das Wörtersuchen im Schockzustand erwies sich als schwierig.
Finn kratzte sich verlegen am Kopf. „Jaaa, das wird seltsam.“
„Was?“ Meine Augen huschten zu ihm und er grinste sein typisches Mir-kann-man-niemals-böse-sein-Lächeln. Es war eine Mischung aus keck und verspielt, schuldbewusst und vollkommen unschuldig. Vor allem mit dem Aussehen eines Brad Pitt und einer Stimme wie aus einer Erotikwerbung für Männer.
Sekunden verstrichen. Er grinste noch. Ich blinzelte. Es machte klick. Finn grinste breiter.
Ich fiel nicht darauf herein.
Ich packte Finn an dem T-Shirt, riss ihn an mich und schüttelte ihn durch. Er schrie überrascht auf und mich wunderte es nur am Rande, wieso ich so stark war wie den Mann, der einen Kopf größer war als ich und zig mehr Muskelmasse am Leib mit sich trug. Es scherte mich auch nicht, dass ich in mir eine Wut spürte, die mich auffraß. Die grünen Augen weiteten sich, als ich Finn tief in die Augen schaute.
„Du hast mir zwei Sekunden Zeit, das zu erklären. Oder ich reiße dich in Stücke und werfe sie aus dem Fenster!“
Finn zögerte. Ich schüttelte ihn erneut. Das Reißen von Stoff war zu hören. Finn hob entwaffnend die Hände.
„Alles gut“, versuchte er es erneut.
Ich knurrte. Ein kehliger Laut wie eines hungrigen Wolfes. „Spiel keine Spiele mit mir, Finn!“
„Das Spiel ist aus“, sagte er. Sein Lächeln verschwand, die Miene vollkommen ernst. „Wir spielen hier nicht, Helen, wir schützen dich.“