Mit großen Augen starrte Selena auf den nackten Finger, der nicht auf sie zeigte. Diese Hand, verziert mit sündhaft teuren Edelsteinen in unterschiedlichen Farben, gefasst in Gold und Silber, die in dem Schein der Fackeln leuchteten, während diese Geste ihr Schicksal beschloss. Runzlige Haut, die den Körper eines Mannes schmückte wie der ebenso unbezahlbare Hermelinmantel, den er sich um die Schultern geschwungen hatte.
„Wieso?“, flüsterte der Mann neben ihr, zitternd. Ebenso ängstlich wie seine Stimme bibberte der Gefangene, dessen Bart sich mitbewegte. Ob aufgrund der einfachen Frage, oder nur, weil vor Angst jegliche Farbe aus dem Gesicht gewichen war, wusste sie nicht. Und es war ihr eigentlich auch egal. Sie kannte den alten Mann nicht, der auch dreißig hätte sein könnte. Doch durch den Dreck und Schmutz am Körper erkannte sie sich ja nicht einmal mehr selbst, wenn sie einen Blick auf ihr Spiegelbild erhaschen konnte. Voller Furcht hielt sie den Atem an, während sie das Gespräch beobachtete. Keine Bewegung, keinen Laut, dann würde man sie vielleicht übersehen.
„Jeder hat sein Päckchen zu tragen“, bemerkte der König nur, während sein Finger immer noch auf ihn zeigte, nicht auf sie. Schulterzuckend schien es ihm auch egal zu sein, dass er allein durch eine spontane Äußerung und seiner Position das Schicksal Hunderter besiegelt hatte. Ihres Volkes, das sich der Macht eines Einzigen nicht unterordnen wollte. Der Kampf war schon entschieden gewesen, denn wer Macht hatte, wenn man von den Göttern selbst gesegnet zu sein schien, konnte sich alles erlauben. Wie sollte dann ein einfaches Bergdorf im hohen Norden, das die harten und kalten Winter überlebte, gegen eine ganze Armee ankommen? Es schien Gerüchten zufolge immer ein Wunder, wie bloße Menschen, einfache Lebewesen, ein solches Naturereignis zu ihrem Lebensmittelpunkt auserkoren hatten. Doch jahrelange Anpassung schien als Grund nicht genügt zu haben, um das Leben Unschuldiger zu verschonen. Und nun waren Selena und der Mann neben ihr die einzig noch lebenden Zeugen der damaligen Schlacht.
„Wo ist er?“, fragte der König schier beiläufig, sein Gesicht umspielte ein Lächeln, das Selena das Blut in den Adern gefror. Das totbringende Blau in seinen Augen erinnerte sie an die eiskalten Flüsse ihrer Heimat, der Pelz an die Tiere, die in ihren heiligen Wäldern gehaust hatten. Den Schmuck, den er um seinen Leib trug, waren ihr Heiligtums gewesen, das sie zu hüten geschworen hatte.
„Ich weiß, man spricht nicht gerne mit mir. Aber sieh es mal so. Entweder ein langsamer und schmerzhafter Tod“, er machte eine Spannungspause, während Selena alle Bilder in die Augen schossen. Zwischen den Schreien und dem Blut in den Verliesen wollte sie nicht mehr an den Tod denken. Jeden Tag einen. Jeden Tag hatte er einen getötet, auf eine grausame Art, damit man ihm das Geheimnis verriet. Das Geheimnis des Jungbrunnens, der ewigen Jugend.
„Oder eben einem schmerzlosen Tod.“ Der Mann schüttelte den Kopf und wimmerte, als die Wachen ihre Klingen auf ihn zeigten. Das Blut war nicht zu sehen, doch diese geschliffenen Gegenstände hatten ihre Verwandten, Brüder und Schwestern den Tod gebracht. Und morgen wäre sie dran, wenn er nicht sprach. Ihre Augen zuckten umher, sah jeden der Wachen an, doch sie wurde ignoriert. Sollte sie bei der heutigen Hinrichtung ebenfalls Zeugin sein?
Der Gefangene schüttelte den Kopf, wie in Trance, wie geschockt. „Ich weiß nicht, wovon Ihr sprecht!“ Diese Antwort war absehbar. Der folgende Befehl zum Tod ebenso. Selena kniff die Augen zusammen und sah nicht hin, als der König seine Aufmerksamkeit schließlich auf sie richtete. Er sah in ihre Richtung und sie verlor sich in dieser tiefen dunklen Seele, die sich unter dem teuren Gewand, dem Schmuck und all den üppigen Gegenständen aus Gold lauerte. Wie ein Raubtier, das zum Absprung bereit war, und doch nicht mehr auf seine Beute warten wollte.
„Und du? Weißt du es auch nicht?“ Selena stockte. Würde ihr kein Tag mehr bleiben? Keinen Tag, an denen sie ihr Leid ihren Göttern klagte, ihre Ahnen um Verzeihung bitten konnte und sich darauf vorbeten konnte. Stumm blieb sie sitzen, ihre Fesseln rasselten, als sie auf ihrer knieenden Position einsackte. Die Wachen neben ihr bewegten sich nicht. Noch nicht. Selena wartete bereits auf ein stummes Handheben. Die Geduld des Königs schien aufgebraucht.
„Keine Antwort?“, fragte der König in lauten Ton. Selena wusste mehr als andere, denn sie war beauftragt gewesen, den Schatz ihrer Heiligen zu bewachen. Es waren jedoch nur bloße alte Schmuckstücke gewesen, die bei Ritualen verwendet wurden. Relikte, die ihren Vorfahren gehört hatten. Doch niemals hatte sie von irgendwelchen höheren Mächten gehört, irgendwelchen Zaubern und schon gar keinem ewigen Leben, den sich dieser Herrscher so sehr wünschte. Der König behielt sich vor, diese Gegenstände um den Hals zu tragen. Mehr könnte Selena nicht sagen, doch sie blieb stumm.
Mit atemlosem Blick starrte sie auf den Kopf neben ihr, schüttelte stumm ihren, sodass ihre fettigen Haare mitschwangen. Was sollte sie denn sagen? Lügen zog sie in Erwägung, dennoch würde dies irgendwann auffallen. Andere Ideen kamen ihr nicht.
„Nun denn“, beschloss der König nun ihren Tod schneller, als sie dachte, zu befehlen? Selena begann ihre Augen zu schließen und unter stummen Tränen, die eigentlich schon genug geweint waren, ihre Trauerrede aufzuzählen. Mögen ihre Ahnen es ihr verzeihen. Möge ihr Volk ihr vergeben, dass sie die Letzte war, die in einer solch grausamen Situation nicht ihre Frau stehen konnte. Dass sie sich vor Angst innerlich wandte und vor Anspannung fast platzte.
Unsichtbar und schier mächtig klammerte sich eine eiskalte Hand um ihr Herz, übernahm ihren Verstand und schloss ihre Ängste und Panik, Sorgen und Nöte aus. Eiskalte Ruhe umgab sie, während Selena lachte. Hysterisch keckerte sie, ihr Lachen hallte an den Wänden des Thronsaales wider.
„Was nun?“, beklagte sich der König über diese Ruhestörung und erstarrte.