Schwer atmend stand Gregor zwischen den anderen und sah sich um. Huschende Mäntel, Röcke, manchmal sah man Haut zwischen den Schals und Köpfen. Moment. Er schüttelte den Kopf, um wieder einen klaren Gedanken fassen zu können. Gregor ging ein paar Schritte, sein verfranzter Mantel stank nach Schweiß, Alkohol und anderem, was er nicht weiter definieren wollte. In den durchgetreten Schuhen klafften Löcher, ein besonders großes an der rechten Vorderseite, sodass der große Zeh hervorlugen konnte. Die früher noch strahlend blaue Hose verband sich nun mehr mit dem Dreck der Straße. Der Schal bot wenigstens ein wenig Wärme, während er sich durch die Menschenmenge kämpfte.
Kämpfen müsste ein falsches Wort sein, denn er lief nur ziellos umher und sah die anderen Menschen an. Er stand inmitten des Alexanderplatzes, sah den Markt, die Häuser und den klaren Himmel, die teilweise weißen Schneeberge und die wild umherlaufenden Menschen. Die Uhr schlug Mittag, während Gregor noch identifizieren musste, wo er eigentlich war. Jemand kam ihm gefährlich nahe, als er ein strenges Parfum roch. Sein Hirn konnte die verschiedenen Gerüche, die er ausströmte und von der Dame, die ihn fast gerammt hatte, gar nicht verbinden. Augenblicklich verschwamm sein Blickfeld mehr als sonst und er drohte zu stürzen. Dank der bereits seit Jahren antrainierten Reflexe konnte er sich noch fangen. Die Übelkeit, die ihm allerdings überkam, konnte er nicht mehr stoppen. Schnell tippelte er mit den schweren Kleidern, dessen Gewicht mehr von dem Dreck kamen als dem eigentlichen Stoff, in eine Zierhecke. Er entleerte seinen Magen und rieb sich mit dem Ärmel über den Mund. Einige Passanten starrten ihn verstörend an und gingen ihm aus dem Weg. Super, er hatte wieder Leute vergrault. Gregor war es irgendwie auch egal, während er mit den Achseln zuckte und die Flasche wieder an den Mund ansetzte. Er hatte sie die ganze Zeit zwischen den Fingern die tröstende Flasche Whiskey gehabt. Doch als er den Rest austrinken wollte, verstand er schnell, dass die paar Tropfen ihm diesmal keine tröstende Wärme und Ignoranz spenden konnte. Knurrend schmiss er die Flasche in den nahestehenden Mülleimer und kramte nach Geld, was er vielleicht nur vergessen hatte zu haben. Schnell grunzte er, was einem Lachen glich, als er merkte, dass er keines besaß. Erschöpft durch den Kater, der ihn nun überkam und die Tatsache, dass er bis auf Alkohol nichts im Magen hatte, saß er sich hin und lehnte sich an eine Hauswand und sah die Menschen an, wie sie an ihm vorbeiliefen.
Hektisch suchten sie noch die restlichen Weihnachtsgeschenke zusammen, wollten ihre Lieben glücklich machen mit Dingen, die sie eh nicht brauchten. Sie hatten doch alles. Ein Dach über dem Kopf, eine Familie, etwas zu Essen, eventuell sogar einen Job, bei dem man Geld verdienen konnte. Und es nicht so garstig erbetteln musste wie Gregor. Peinlich. Er verabscheute sich selbst dafür, dass er auf der Straße lebte. Obwohl er dennoch nichts für konnte. Seine Ex-Frau hatte ihn derart in die Mangel genommen, dass ihm nichts mehr blieb als die Kleider, die ihm seit September Wärme spendeten und einen Geldbeutel mit finanziellem Inhalt, der bereits die ersten zwei Wochen nach Rausschiss aus seiner Wohnung zum Saufen ausgegeben wurde. Gregor seufzte, sah in den Himmel und zähle die Wolken. Zählen beruhigte, weil dann auch mal die Zeit verging. Der Kater schlich zwischen den klaren kurzen Gedankengängen und sorgte für vernebelte Momente. Er wusste nicht mehr. Wo er war und was er eigentlich hier tat. Doch bevor er weiter Schlimmeres denken konnte, hörte er ein Rascheln vor sich.
„Gregor?“, fragte eine weibliche Stimme und sah ihn schockiert an. Wie auch sonst, bei einem solchen widerlichen Anblick? Gregor antwortete nicht, sondern wartete ab, bis dieser Jemand, nein, diese Frau, wegging. Diese Schlieren vor seinen Augen verschwanden nicht, so erkannte er ihr Gesicht und daher ihre Emotionen nicht. Lediglich sah er die blonden Haare und einen schwarzen Rock, der ihr bis zu den Knien ging. Doch da sie immer noch nicht wegging sah Gregor noch den auffallend roten Mantel an und dachte an die vergangene Zeit. An seine Ex, an sein Leben mit einem vollen Magen. In diesem Augenblick zog er sich zusammen und knurrte laut.
„Hier!“, sagte die Frau und stellte eine volle Tüte neben ihm ab. „Eigentlich war ich unterwegs, um meinen Kindern etwas zu kaufen, aber sie werden dieses Jahr wohl leider nicht kommen können.“ Gregor grunzte ein „Danke“, obwohl er Mitleidsgeschenke nicht haben wollte. Er wollte dennoch nicht unfreundlich sein. Die Frau ging wieder und ein verschwommener Schleier zog sich durch sein klares Blickfeld. Er schaute in die saubere Tüte, die vor ihm stand. Aus ihm drang ein leckerer Geruch und Gregor kramte einen Krapfen hervor. Genüsslich biss er hinein und ließ sich die Süße auf der Zunge zergehen. Doch die Tüte war nicht voller Essen, sondern beinhaltete auch eine Karte. Er saß sie an, während sich seine Augen sich mit Tränen füllten.
Auch wenn wir dieses Jahr nicht beisammen sind, denke ich dennoch an dich.
In Liebe
Deine Tochter Klara.
Seine Tochter, die seit zwei Jahren nicht mehr mit ihm gesprochen hatte. Als er mit dem Saufen angefangen hatte. Wer war diese Frau gewesen, wenn doch seine junge, großartige Klara heute vor zwei Jahren gestorben war?