Max schwang sich auf das Motorrad und genoss den Fahrtwind, der mit der aufkommenden Geschwindigkeit stetig zunahm. Sein Grinsen wurde immer größer, je mehr er sich an dieses Gefühl gewöhnen wollte. Jedes Mal, wenn er sich an die Maschine presste, fühlte dessen Metall sich zuerst kühl an, dann von der Motorwärme immer heißer. Die Finger auf dem Lenkrad, das rechte Handgelenk nun die Bestimmung über Leben und Tod. Seinem Leben. Seiner Freiheit.
Den Helm hatte er zuhause gelassen. Wer brauchte den schon? Ein Ding, das sowieso nichts tat, außer zu stören und bei einem Sturz nicht zu helfen. Doch vielmehr interessierte sich Max für das, was vor ihm lag.
Der Umrisse seines Blickfeldes verschwammen zunehmend, je eher er das Handgelenk nach unten drehte. Den linken Fuß klapperte gezielt und schnell das Pedal, während Max auch die Kupplung mit der linken Hand betätigte. Er wusste, wann er welchen Gang einsetzen musste. Schnell war er im fünften, sodass er den linken Fuß entspannte und sich voll und ganz auf die Straße vor ihm konzentrieren konnte. Nur sein rechter Arm war nebenbei bei der Arbeit und schien ganz von allein, ohne jeglichen Befehl zu agieren. So viele Kilometer, die er auf seiner Suzuki hinter sich gebracht hatte. So viele Menschen, die er neben sich hatte fahren sehen. So viele Gesichter, in die er geblickt hatte, als er das Gas erhöhte und der Motor aufheulte. Die Vibrationen erregten ihn, brachten ihn zu einer Ektase, die mit nichts Vergleichbar war. Glücksgefühle und Hormone, die seine Gefühle erklären konnte, waren weit weg.
Max bog in eine rechte Kurve und gab nach Ende Gas, als seine Gedanken wie die Bäume an ihm vorbeiflogen, die Menschen und deren Gesichter wie das Gras verschwammen und zu einem Bild wurden, dessen Details nicht mehr erkennbar waren. Die Haare, die er sich schön gegelt hatte, oder die Kleidung, die unendlich teuer oder ansehnlich waren, interessierten hier keinen mehr. Keinen, nicht mal ihn. Er würde, wie Gott ihn geschaffen hatte, einfach auf seinem Zweirad bleiben und seine Einsamkeit genießen, wenn er könnte.
Und bevor er es beeinflussen konnte, sah er rote Rücklichter vor sich und er wurde langsamer. Der Tacho zeigte 50 an, und er gurgte hinter einem Familien Van in eine Stadt. In welcher, das war ihm egal. Er kannte die Strecke nicht. Doch dieses langsame Tempo sorgte dafür, dass nahende Probleme wieder realer wurden und die Details wiederaufkamen, die er versucht hatte zu verdrängen. Dass er sein Gesicht überall sah. Auf Plakaten, auf Werbetafeln, auf Bussen, auf Autos, auf Shirts. Alles, wo Menschen hinblicken konnten, selbst auf die Haut. Er würde etwas Wichtiges sein, in der Zukunft. Die immer näher rückte. So sehr er mit seiner Suzuki floh, so sehr er sich dagegengestemmt hatte, so sehr würde man ihn drängen, ihn zwingen. Er ist geflohen, ausgebüxt, hatte sich gedroht, das Leben zu nehmen, hatte seine Meinung gesagt. Doch nichts wollte man ihm zugestehen, keiner wollte ihn anhören, für keiner war er ein Mensch, ein Individuum. Nur, weil er anders war.
Max sah sich um, wünschte sich nichts sehnlicher als eine Verwandlung. Eine Verwandlung in seiner Umgebung, in der Gesellschaft, eine Veränderung in deren Meinungen. Er fühlte sich wie ein Käfig, aus dem er versuchte auszurechen. Er konnte nicht mehr sein.
Er war so sehr in seinen Gedanken, bevor er die aufblinkenden Lichter vor sich sah. Die Suzuki krachte in den Van und Max´ Verstand kreiste um die vergangenen Sekunden. Als er sich wieder auf der Strecke befand und der Natur beim Vorbeirauschen zusah. Er sich wieder freute allem entflohen zu sein und wieder alles vergaß, das Metall spürte und die Geschwindigkeit erhöhte…
Ein verfluchter Geist vielleicht?
Ein ewiger Kreislauf von Emotionen an der gleichen Stelle. Jegliche Freude, wenn man an Freiheit denkt und jeglicher Schmerz, wenn sie genommen wird. Ein Hamsterrad und ein ewig schwingendes Pendel, ein monotones Leben, eine Einsamkeit, die mit einmal kommt. Sorgen, die schlimmer werden und negative Gefühle, die drohen, mich zu ersticken. Ein Loch, das mit einem Mal da ist, obwohl man nichts getan hat. Ein Atemzug, an dem man droht zu ersticken, obwohl man an der frischen Luft ist.
Und doch bin nur ich diejenige, die das Pendel stoppen kann, die Varietät in ihr Leben bringen kann, die sich eine Leiter bauen muss, um aus diesem Loch auszutreten. Und doch beginnt alles mit dem ersten Schritt.
Also stehe ich auf und atme tief ein.