Eine Fortsetzung des Kapitels 37 - Abend:
Yesim blinzelte. Das einzige Zeichen, das sie sich zur Überraschung erlaubte.
„Du rufst mich an einen verlassenen Waldfriedhof, weil du einen auf cool machst und ein Problem hast, obwohl es dir allen Anschein nach gut geht?“ Sie fragte sich wirklich, woher diese Klagelaute am anderen Ende des Hörers gekommen waren, wenn ein sprichwörtlicher Bad Boy vor ihr stand. Noch einmal überzeugte sich die Schwarzhaarige, in dem übrigen Licht wirklich keine Tränen, Verbände oder abgetrennte Gliedmaßen entdeckt zu haben. Nein, alles an ihm war dran und gesund.
Beschwichtigend hob Max die Hände und trat einen Schritt auf die Frau zu. Yesim dagegen vergrößerte ihn wieder durch einen rückwärtigen Schritt. Dabei knarrte es unter ihrem Schuh gefährlich. Sie würde, wenn sie weiter auswich, den Feldweg verlassen und durchs Gestrüpp fliehen müssen. Tausend Möglichkeiten schossen ihr innerhalb einer Sekunde durch den Kopf, wie sie von ihm wegrennen könnte, doch Max seufzte, trat ans andere Ende des Weges und zog sich seine Lederjacke aus. Mit einem schweren Klirren der Reisverschlüsse blieb sie im Dreck liegen. Danach klopfte er sich an die Hose, die mehr Taschen aufwies, als Yesim überhaupt an der gesamten Kleidung hatte. Zu Tage förderte er ein zylinderförmiges Gerät, das er vorsichtig abstellte, sowie ein benutztes Taschentuch und ein Schlüsselbund mit einer Holzfigur. Mit flachem Atem sah Yesim dabei zu, wie ihr Ex seine Taschen leerte. Durch die nahende Dunkelheit erkannte sie seine Züge nur schwer, doch sie maßte es sich nicht an, zu verstehen, was Max eigentlich gerade trieb.
„Da du schon immer misstrauisch warst, bitte“, eine Hand zeigte auf die Gegenstände am Boden. „Ich habe nichts dabei, dass dir gefährlich werden könnte.“
Yesim lachte trocken auf. „Klar, unter deiner Kleidung hast du sicher nichts versteckt.“ Irgendwie entwickelte sich der Moment in eine absurde Situation. Niemals hätte Max sich so offen gezeigt. Was war bloß geschehen?
Erneut stöhnte der Bad Boy genervt. „Auch wenn es dir gefallen könnte, werde ich mich nicht ausziehen, nur weil du deine Paranoia nicht im Griff hast.“
„Meine Paranoia?! Ist dir eigentlich mal aufgefallen, dass du derjenige bist, der hier mich in den Wald gelockt hat?“ Ihre Stimme wurde schrill. Fast schrie sie die Frage heraus, doch Max bückte sich vorsichtig und legte sich sofort einen Finger auf die Lippen. Er drehte den Kopf leicht, als würde er in die Finsternis lauschen. Yesim war sich sicher, egal, wann sie hier wegkonnte, sie würde es bei bester Gelegenheit tun. Die Augen ihres Ex wanderten umher, als er sich schließlich in die Hocke wagte und den Zylinder aufnahm. Yesim drückte sich mehr gegen den Baum, der ihr bei den vorsichtigen Schritten zur Flucht im Weg stand. Doch Max ließ sie dabei nicht aus den Augen, wenngleich die Fäden der Dunkelheit ihn völlig umhüllten.
„Hör zu, Yesim. Ich weiß, das ist alles verdammt gruselig. Aber ich will dir nicht weh tun. Ich brauche wirklich deine Hilfe.“ Das plötzliche Flüstern ließ sie zusammenzucken. Sie rührte sich nicht, sagte aber auch nichts. Max fuhr bedächtig fort.
„Du bist die Einzige, die mir eben nun mal eingefallen ist.“ Sofort überschlugen sich Yesims Gedanken. Drogen? Machte Max etwa Drogengeschäfte und steckte in Schwierigkeiten? Das würde den abgelegenen Ort erklären. Oder hatte er sich etwa mit jemanden angelegt? Mafia? War die Mafia hinter ihm her? Aber wieso sie? Wie sollte sie da helfen können? Yesims Herz klopfte bei jedem neuen Gedanken, der sich wilder anhörte als der vorherige, schneller in ihrer Brust. Ihre schreckgeweiteten Augen dagegen starrten auf Max, der sich verhielt, als wäre etwas hinter ihm her.
Sofort überschlugen sich die Ereignisse. Der Mann preschte vor, während Yesim Luft holte. Als sie schreien wollte, presste Max ihr die Hand vor den Mund und murmelte etwas von Stille und Gefahr. Doch mehr verstand sie nicht und wollte es auch nicht.
Alle Kraft, die Yesim besaß, konzentrierte sie in die Schläge gegen den Mann, der sie festhielt wie ein Schraubstock. Egal, was er ihr sagte, sie hörte nicht auf, sich zu wehren. Bis irgendein Finger sie am Nacken berührte und Yesim von jetzt auf gleich in die Dunkelheit verschwand, in der sie Max geführt hatte. Sofort schlug Yesim die Augen nieder und verlor das Bewusstsein.
Ein Hall erklang in ihren Ohren. Dann noch einer. Jemand lief hektisch umher. Yesim stöhnte und rieb sich den Nacken. Man gab ihr wohl die Zeit, wieder zur Besinnung zu kommen, denn die Schritte verklangen und ein Parfumduft drang in ihre Nase. Yesim gähnte, rieb sich die müden Augen und schlug sie danach plötzlich auf.
Ich bin ja gar nicht zuhause.
Vor ihr stand eine Gestalt. Max. In schwarzer Lederhose und dunklem Shirt. Und sie lag auf einem dieser Holzbänke in der alten Kapelle.
„Schreist du immer noch?“, fragte er mit verschränkten Armen. „Oder soll ich dich wieder schlafen legen? Hast ganz süß ausgesehen, wie du auf der Bank geschlafen hast. Nur ein wenig steif hast du gelegen.“ Max düstere Fassade bröckelte, als er freundlich lächelte. „Geht´s dir besser? Ich habe mir Sorgen gemacht, dass…“
„Haha“, unterbrach ihn Yesim. „Lass deine Sprüche bei dir! Und deine Pfoten auch!“ Ihre Gereiztheit überraschte sie zwar selbst, aber es ging ihr gut. Sie war nicht entkleidet oder grob angefasst worden. Nur der Schmerz im Nacken stammte von dem harten Holz. Trotzdem wollte sie nicht auf die gespielte Fürsorge hineinfallen. „Und jetzt? Entführst du mich, du Bad Boy?“
Max zog die Augenbrauen hoch. „Ein Bad Boy, hm?“ Er trat näher, bis schließlich wenige Zentimeter beide trennten. „Wenn ich so schlecht wäre, hätte ich dich sicherlich nicht so aufwachen lassen, oder?“
„Lass deine Witze bei dir, Max. Was willst du von mir?“ Wenn Yesim könnte, würde sie Gift verspritzen.
„Ja, das war ein wahrer Treppenwitz.“ Er lachte kurz auf, als wäre alles wirklich nur ein Spaß. Sofort huschte Yesims Blick durch die Inneneinrichtung. Sie hatte sich schon zuvor über die helle Beleuchtung gewundert. Der Zylinder stand auf dem Altar und strahlte kreisrund die Decke an, während an der längeren Seite verschiedene Knöpfe und Lichter in bunten Farben leuchteten. Allein der rote Punkt, der regelmäßig aus und an ging, machte sie verrückt.
„Ein was?“ Die Frage entwich ihr wie ihre Atemluft, als drückte etwas schwer auf ihre Lunge.
„Ein Treppenwitz…“, seine Hand drehte sich, als würde er nach einem Wort suchen. „Sowas wie ein Schenkelklopfer, ein Flachwitz, ein…Witz eben.“ Was stimmte nicht mit diesem...?
Dann fiel es Yesim wie Schuppen von den Augen. Die Zeit stand still, als Yesim erneut in diese tiefdunklen Augen blickte.
„Du bist gar nicht Max, oder?“