Verwirrt starrte Felix in die Augen desjenigen, der mit erhobener Hand seinen Vater musterte. In diesem festen Griff aus eisernem Willen und auch Zorn, der sich in den dunklen Augen abspielte, sah der junge Mann zu, wie Viktor von einer Pistole bedroht wurde.
Viktor selbst, jedenfalls seine Gesichtszüge, entglitten ihm nicht wie bei seinem Sohn. Doch weder beschwichtigende erhobene Hände noch reine Provokation in den ruhigen Worten brachten seinen Gegenüber dazu, auf den Abzug zu drücken. Diese Situation wirkte so surreal wie auch leicht absurd.
„Was hast du gesagt?“, knurrte der Waffenträger und drückte sich weiter vor. Die Distanz zwischen dem dunklen Loch der Waffe und dem Brustkorb seines Vaters betrugen nur noch wenige Zentimeter. Viktor selbst hatte die Hände an die Seiten gelegt, stand da und schaute neugierig auf, während in Felix die Wut und die Angst tobte. Panik schnürte ihm die Kehle zu, während sein Herz wie im Galopp das Blut in seine Glieder pumpte. Doch die Fingerspitzen fühlten sich weder feucht noch kalt an. Er spürte sie nicht einmal.
„Ich habe es nicht“, wiederholte Viktor erneut. „Ich habe deine Beutel nicht, oder wie auch immer du diese Pakete nennen magst.“
„Und wieso hat mein Kumpel hier keine mehr, hat dich dabei gesehen, wie du sie geklaut hast? Der sollte sie eigentlich um die Ecke vertiggern?“ Hinter dem Mann, der mit einfachem Kapuzenpullover und lockerer Jeans eigentlich gar nicht so kriminell aussah, standen drei weitere Gestalten, aber in den Schatten verhüllt. Felix sah nur, wie einer der Freunde des Kriminellen die Fingerknöchel bedeutsam knacken ließ, während das metallische Aufblitzen eines Butterflymessers die Panik in Felix um das tausendfache vergrößerte. Mittlerweile kamen ihm einige Ideen, wie er fliehen könnte. Doch dabei würde er seinen Vater hierlassen müssen, der sich von den Waffen nicht im Mindesten beeindrucken ließ.
Er zuckte dagegen auch nicht, als ein zweiter Angreifer ins Licht der Laterne trat und ihm die Spitze des langen Messers zeigte. Bedrohlich lechzte das Butterfly nach Blut, doch Felix bildete sich dies sicher nur ein. Es verwunderte ihn, dass während der letzten Minuten, in welchem man seinen Vater bedroht hatte, nicht einmal auf Felix zugegangen worden war. Beide, Vater und Sohn, waren zum Urlaub hier in Budapest, während sie verfolgt und in diese einsame Gasse gedrängt worden waren. Seither wurde er ignoriert, als wäre er nicht einmal anwesend. Doch diesen Vorteil machte sich Felix zu Nutze und überlegte fieberhaft, wie er seinen Vater aus der Gewalt dieser bedrohlichen Gestalten bringen könnte.
„Vielleicht könnten wir ja endlich mal zur Sache kommen?“, fragte Viktor ein wenig zu ungeduldig. Felix zuckte zusammen, als die Rohrmündung an die Stirn gehalten wurde.
„Du willst unbedingt sterben, oder?“
„Nein, ich möchte eigentlich die Stadt sehen, weil ich morgen wieder zurückreise. Deswegen, beeilt euch ein wenig.“
Hinter dem Waffenträger lachte der Besitzer des Messers hämisch auf. In schlechtem Englisch gab er seinen Spott genug Ausdruck, als er sprach: „Glaubt der etwa, in der Knarre ist Konfetti drin?“
Viktor schmunzelte ebenfalls und gab auf Ungarisch einige Worte zurück, die beide Männer erstarren ließen, dann sprachen sie wieder Englisch. Seit wann konnte Viktor die Landessprache ihres derzeitigen Urlaubsortes sprechen? Verblüfft sahen die Augen zu, wie Viktor die Situation unter Kontrolle zu bringen versuchte, während Felix´ Verstand an der Glaubhaftigkeit zweifelte.
„Also gut, ich geb´s zu“, stöhnte sein Vater, während er die Hände hob und ein kleines Päckchen aus seinen Jackentaschen holte. Blut wich aus dem Gesicht, während Felix zusah, wie weitere zu Tage gefördert wurden und mit einem kleinen Geräusch auf dem Betonboden landeten.
Die Pistole auf ihn gerichtet, stand nur das Zucken eines kleinen Fingers zwischen Tod und Leben. Entgeistert sah auch der Waffenträger dabei zu, wie bündelweise kleine Tütchen auf den Haufen geschmissen wurden. Woher hatte Viktor diese Drogen? Verdammt, sein Vater war doch Elektrotechniker, wie konnte er denn mit dem Dealen anfangen? Er hatte Familie, wenn auch sein jüngster Sohn, er, bereits erwachsen war.
„Soll ich noch weiter machen, oder...?“ Mit hochgezogenen Augenbrauen und süffisantem Grinsen erhob er die Hände.
„Du verdammter...“, fing der Hintermann bereits an, doch Viktor war schneller und drückte dem Besitzer der Pistole ein Tütchen auf die Brust. Wie…? Wie verdammt nochmal war Viktor so schnell die paar Zentimeter von dem Platz vor der Waffe neben den Mann gerannt? Diese Geschwindigkeit war übermenschlich. Felix verstand noch weniger und sackte erschöpft auf die Knie. Das Geräusch ließ den Ende Vierziger aufsehen, doch ein Blick über die Schultern verrieten ihm, dass es Felix gut ging. Das zählte wohl offenbar, während Viktor auf die Messerspitze schlenderte.
Hatte Felix gerade die Augen eines anderen gesehen? Etwas nicht Menschliches?
„Also gut, ich wünsche den Männern noch eine angenehme Nacht!“ Viktor war schließlich am Eingang der Gasse angelangt, eine Hand in der Hosentasche versteckt, während der Pistolenträger wütend herumfuhr und den Abzug drückte. Felix hörte den Knall, aber seine Augen weiteten sich, als glitzernde kleine Papierschnipsel durch den Aufwind in der Luft wirbelten und zu Boden rieselten wie leichter Schneefall. Der Messertyp dagegen rannte auf Viktor zu, doch kam keinen Meter weit, als der Boden unter seinen Füßen zu rieseln begann. Immer größer wurde das Loch, das wie grauer Sand aussah, während er den Mann im Boden verschluckte. Treibsand. Woher kam dieser verdammte Treibsand?
Die letzten Beiden wollten entweder fliehen oder angreifen, doch die Eisstatuen im Zentrum des Ganzen machten ihr Vorhaben unmöglich. Der letzte Verbleibende, der erschöpft zu Boden sank, sah Viktor an. In dem Blick stand die gleiche Frage wie bei Felix. „Wieso..? Wie..?“ Doch eher zur Hölle, WAS geschieht hier?
Viktor schenkte dem Mann ein mattes Lächeln. „In den Tütchen ist übrigens Mehl. Du solltest dir also bessere Käufer suchen. Oder eben mal selbst hineinschauen. Gewinn machst du damit jedenfalls nicht.“ Dann blickte er auf, nickte seinem Sohn zu und um Felix zerplatzte eine Seifenblase. Erschrocken musterte der Waffenträger seine Pistole, erkannte Felix´ Anwesenheit erst jetzt und drückte erneut ab, wollte Viktor eins auswischen. Doch dieser rannte nur schnell auf seinen Vater zu, der grinsend das erneut herumwirbelnde Konfetti in der Nacht betrachtete.
„Schön, nicht?“
Dann zog er Felix weg vom Tatort und sein Grinsen verschwand. Ein paar Meter weiter an der vielbefahrenen Hauptstraße fragte Felix, ohne Worte, mehr mit Blicken.
„Das hättest du nicht sehen sollen, aber gut.“ Viktor tippte sich gedankenverloren an das Kinn, schließlich nickte er. Der gleiche ausgestreckte Finger berührte Felix Stirn, als er das Gleichgewicht verlor und über den Bordstein fiel. Lichter explodierten noch in seinem Blickfeld, als der LKW ihn erfasste und er fiel…