Schnell richtete sich Valeria auf und sah hinab zu der Menschenmenge. Sie jubelten und kreischten, warfen ihre Hüte oder gar ihre Kleidung zu ihr empor. Jedoch würden diese Gegenstände sie nie erreichen, nicht mal die Nelken, die ihr zuliebe durch die Luft flogen. Die leichte Brise sorgte dafür, dass der stechende Geruch an ihre Nase drang. Auch wenn der Wind ihre hitzige Haut abkühlte und sie selbst dadurch ein wenig zur Ruhe kam, würde die Situation sich erst entspannen, wenn sie vom Balkon getragen wurde.
Schwer schluckte sie und ihre raue Kehle verglich sie nun mit einer Wüste. Einer Sandwüste, oder einer, welche nur Trockenheit auswies oder wo nur rissige Steine lagen. Nur keine Feuchtigkeit, nur keine Pflanzen, nur kein Leben. Ihre Augen fixierten eine große schwingende Flagge ihres Landes, die grau und schwarz sowohl dem Wind entgegenflog als auch den Bewegungen des jungen Mannes folgte, der den schweren Stab in den Händen hielt.
Valeria atmete einmal auf und hob langsam das Zepter. Das Gold glitzerte in der schwachen Sonne, obwohl der Regen so nah schien und der Himmel nur wolkenverhangen war. Es drohte zu regnen und doch wollte das kühle Nass weder für ein wenig Feuchtigkeit sorgen noch die Menschenmassen vor ihrem Balkon vertreiben. Sie waren immer noch da und selbst ein kurzes Augenschließen sorgte nicht dafür, dass sie aus diesem Alptraum erwachte.
„Majestät“, hauchte ein Diener, wohl ihr Berater, zu ihrer rechten und Valeria hob auch eine weitere Hand, in welcher ein Schwert ruhte. Die Klinge, so spitz und so alt wie die Zeit selbst. Ein Zeichen der Stärke und Macht und durch das stumme Hochheben ein Versprechen, dass sie nun bis zu ihrem Ende halten musste. Beschützen, Regieren, Herrschen, Lenken, Gebieten. Doch über was?
Das Symbol auf der Flagge, die auch überall auf Banner hing, die blühende Nelke, strotzte vor Stolz, vor Macht und Reichtum. Die dahinter gekreuzten Schwerter zeugten ebenfalls vor Kraft.
Schwachen Schrittes trat Valeria vor und fühlte sich sogleich unbehaglich. Ihr trat der Schweiß aus, als sie nun vollends bis zum Horizont Menschen, Banner und Flaggen sah. Hochgeworfene Gegenstände, lachende und glückliche Gesichter. Voller Erwartungen. Voller Hoffnung. Voller Sehnsucht.
Eine Sehnsucht, die sie auch hatte. Sie fühlte mit ihrem Volk.
Ihr stand die Welt zu Füßen. Alle verbeugten sich vor ihr, sie war das einzige Oberhaupt eines ganzen Landes. Bestimmte durch ein Nicken über Leben und Tod, über Krieg und Frieden, über Glück und Unglück. Musste sich nicht so ein Gott fühlen?
Valeria erhob wieder ihre Hände und lächelte, die Kameras nahmen jedes Details ihres Gesichtes auf und durch die antrainierte Mimik und Gestik wusste sie, was von ihr erwartet wurde. Ihre Ansprache war kurz, dennoch heroisch und mit machtvollen Worten durchzogen. Darin klare Forderungen, deutliche Versprechungen und sehnsüchtige Wünsche. Sie war kein Mensch vieler Worte und liebte die Ruhe und Stille. Eine Stille, die sie bald hatte. Hoffentlich. Valeria lächelte, als sie wieder die umherschwirrenden Nelken sah.
Die Blumen, viele Tageten, die doch so widersprüchlich durch die Luft gewirbelt und stolz zum Himmel getragen wurden. Das Zeichen des Todes, der ihnen bald drohte. Valeria sah in den Horizont und damit die Massen auf ihre Stadt marschieren.
Sie war die letzte Verbliebene einer Ahnenreihe mächtiger Herrscher, die den Krieg gegen ihre Feinde verloren hatte. Das einst so prächtige Land inmitten eines Paradieses voller Flora und Fauna hatte keine Chance gehabt gegen drei angrenzenden Reichen, die sie von allen Seiten angegriffen hatten. Nur wegen einer Legende, einem Ammenmärchen, einer unendlichen Macht, die sich ihre Gegner durch einen Sieg versprachen. Wie diese Reiche es geschafft hatten durch ihre starke Flotte, durch ihr mächtiges Heer und ihren tödlichen Waffen vorbeizukommen, konnte die Dreizehnjährige nicht verstehen. Dazu reichte ihr kindlicher Verstand nicht aus. Dennoch würde sie, wie von ihr gefordert, ihr Volk auf die letzte Reise begleiten und führen.
Die verbliebenen Wachen postierten sich um die einfachen Mauern rund um die Stadt und beschützten spärlich die letzten Einwohner ihres fremdartigen Volkes. Die tobende und freudige Menschenmasse vor Valeria ahnte bereits, was ihr innerhalb der nächsten Stunden blühen würde und deshalb hatten sie diese neue Flagge gehisst. Zum Spott ihrer Feinde, zu Ehren der neuen Königin. Und Valeria war stolz darauf.
Vater, Mutter, Bruder, Valeria schloss die Augen und streckte mit letztem Schrei die Arme in die Höhe, schrie einen Schlachtruf und ihre ganze Entschlossenheit und Stärke in die ganze Welt. Ich bin bald bei euch. Geduldet euch noch ein paar Stunden.
Dann hörte man das Getöse der Kanonen und den Lärm der nahenden Soldaten, die die Mauern stürmten. Der Tod erfasste die Straßen sehr schnell, bis man das Blut förmlich schmecken konnte. Und Valeria stand immer noch am Balkon und sah zu, wie ihre einst so friedvolle Welt zusammenbrach. Doch sie lächelte, fand hoffentlich nun ihren Frieden. Und ihre Familie.
Hinter ihr wurde sie plötzlich ergriffen, in die Knie gezwungen und mit spitzem Metall bedroht.
„Wo ist es?“, fragte ein bärtiger Mann voller Irrsinn in den grauen Augen.
„Ihr seid ein Verlierer, wenn Ihr meint, durch Tod und Verderben eine Macht zu erlangen, die selbst Götter trotzt. Ihr seid nichts als ein verwirrter alter Mann. Einer, der immer suchen, und doch nie finden wird“, antwortete sie lächelnd und stolz. Ihre letzten Worte. Die Klingen wurden durch ihr Körper getrieben, das Blut aus ihrem Körper gepresst und doch spürte Valeria etwas in ihr. Sehnsucht, Frieden und Hoffnung.
Ihr wurdet angehört, Valeria, und Euch wird die Macht zuteil, sprach eine mysteriöse Stimme in ihrem Inneren.