Sie atmete auf und schaute herab, während alle Anwesenden sie anstarrten. Oder die Krone, die Maresta trug. Oder das Symbol, das sie gerade darstellte.
„Willkommen“, begrüßte sie den Neuankömmling knapp im reich geschmückten Thronsaal. Es war immer noch ungewohnt, auf dem Platz ihres verstorbenen Vaters zu sitzen. Vor allem, weil sie die Tochter war. Selten kam es zu solch einem Fauxpas, dass nicht der Sohn, sondern die weibliche Seite der Königfamilie die Nachfolge antrat. Doch diese kleinen Sorgen traten sofort in den Hintergrund, als sie vor einer Stunde die Nachrichten erhalten hatte, man habe ihn endlich gefangen. Ihn, den aktuell meist gesuchtesten Mann des ganzen Königreiches.
„Stell dich vor“, verlangte sie, doch Schweigen folgte. Ebenso ruhig wie ihr Vater versuchte Maresta, ihre Autorität nicht durch die Krone fließen zu lassen, sondern durch das vor Stolz erhobenen Kinn, den gestrafften Schultern und dem Stand ihres Adels. Sie betrachtete den misstrauisch dreinblickenden Mann Mitte Zwanzig, der sich ebenso skeptisch umsah. Hass triefte aus der Maske voller Selbstbeherrschung. Doch wenn seine Gefühle überhandnahmen, so zog er sich selbst zurück und beherrschte seine Miene so gut wie Maresta die Ruhe.
Den Lumpen Kleider, den er am Leib trug, war zerlöchert. Man konnte deutlich die Muskeln erkennen. Ein Arbeiter also. Einer der Unterklasse, der die Revolution angezettelt hatte. Man wusste bis vor kurzem, um wen es sich gehandelt hatte, der die Felder angezündet hatte. Derjenige, der sich gegen die Königsfamilie auflehnte.
Maresta versuchte, Gründe für den Aufstand zu finden. Man sagte ihr, er war ein überzeugender Redner, der seine Gesten ebenso raffiniert einsetzte, um den Willen zu bekommen. Die Spione hatten eines der geheimen Treffen ausgekundschaftet und ihn sogleich schnappen können. Ambitioniert und zielstrebig soll er den Willen einer ihr unbegreiflichen Revolte verfolgen.
Sicher, es gab Armut in ihrem Reich, aber das Sozialsystem war besser als in anderen Königreichen. Man hatte fließend Wasser in jedem Haus, die Wirtschaft und der Markt brodelte. Es gab Frieden. Nur der verpflichtende Dienst im Heer für vier Jahre war für jeden, und wirklich für jeden, ein Muss. Selbst Maresta als Königstochter hatte dienen müssen. Es gab auch demokratische Wahlen ohne Betrug
Und Maresta wusste beim besten Willen nicht, was so schlimm an ihr war, dass man ihren Tod verlangte. Ihr Vater hatte mit harter Hand regiert, um den Wohlstand aufrechtzuerhalten. Selbst einen Sklavenmarkt gab es seit zehn Jahren nicht mehr im Land. Hatte sie etwas übersehen?
„Sprich endlich!“, schrie ein Ritter und wollte am Mann in die Kniekehlen treten, doch Maresta erhob eine Hand und trat von der Erhebung, auf dem ihr Thron ruhte. Sie wollte auf Augenhöhe mit dem Mann sprechen. Sie wollte ihm nicht das Gefühl geben, er war nichts wert. Denn in diesen grünen Augen stach ein eiserner Wille hervor, der sie beeindruckte. Sofort unterbrach der Ritter seine Aktion und zog nur die Fesseln strammer, damit die am Rücken angebundenen Hände ihr nicht wehtun konnten. Der Gefangene hielt sich gerade noch so im Gleichgewicht, schaute umher und spie mit dem Blick jedem Hass und Abscheu entgegen. Er hielt inne, als sie schließlich vor ihm stand. Fünf Meter trennten sie. Mit einem überraschenden Angriff würde er ihr weh tun können und auch die Ritter traten mit diesem Bewusstsein nicht näher. Doch sie zögerten mit ihrem Griffen um die Schwerter. Weil sie nichts befahl. In Ruhe betrachtete Maresta den Mann, dessen Maske aus Zorn Risse bekam. Es schaute aus, als wäre er unsicher, doch er hielt sich wacker.
Nun sah man auch die hohen Wangenknochen und die eingefallenen Augen. Er hatte tagelang nicht geschlafen, doch unterernährt schaute er nicht aus. Und bedeutsame Verletzungen könnte sie nicht ausmachen. Er stand kräftig auf zwei Beinen, hatte zwei Arme und eine gerade Nase. Teilweise verunstalteten Narben seine Haut, doch diese waren nicht weiter erwähnenswert. Auch Marestas Körper zierten solche kleinen Makel. Es waren auch keine Anzeichen für Folter erkennbar.
Genauso verwirrend war es für Maresta, wenn um den Phänotyp ging. Es gab viele in ihrem Königreich, die einen unterschiedlich Hautton hatten. Die braune Haut könnte darauf hindeuten, dass der Anführer der Revolte aus dem Süden oder Westen kam, die grünen Augen standen für den Norden, die dunklen schmutzigen Haare standen im wild ums Gesicht. Kam er vielleicht von den Weiten Wüstenfeldern? Jedenfalls rieselte für ihn der Sand der Zeit durch das Glas. Das war beiden bewusst. Diese Erkenntnis traf Maresta nicht. Dem Unbekannten aber ebenso wenig. Er tat nichts. Zog weder an der Fessel, noch machte er sich für etwas bereit.
Maresta fasste einen Entschluss, als ihr Verstand ihr zu etwas Unüberlegtem riet.
„Macht ihn los.“ Zuerst hörte sie ein stummes Aufatmen, fühlte die Anspannung in der Luft. Konstant hielt Maresta den Blick auf den Gefangenen gerichtet und versuchte, jeden Zentimeter seiner Absicht zu ergründen. Doch selbst als die Eisenschellen auf den Boden fielen, die Ketten die Stille mit einem Rasseln durchbrachen und er sich die wunden Handgelenke rieb, tat er immer noch nichts. Er schaute sie und die Umgebung stumm an.
„Ich bin Königin Maresta, werde aber meist nur Maresta genannt. Auch du, Unbekannter, darfst mich Maresta nennen. Bitte erlaube mir eine Frage.“ Vielleicht half ja Höflichkeit. Immerhin schien er intelligent und aufmerksam.
Dass ihre Taten naiv waren, war ihr bewusst. Jederzeit könnte der Unbekannte nach einem Schwert greifen und ihrem Leben ein Ende setzen. Deshalb traten die Ritter einige Schritte vor.
„Sage mir bitte, wie man dich nennt.“ Sie wollte ihn nicht mit etwas betiteln, dass ihn in Aufruhr versetzte. Das wünschte sie mit dem Titel „Königin“ ja selbst nicht.
Doch er sagte nichts. Die dünnen, spröden Lippen waren aufgerissen. Der Bartansatz verriet, dass die letzte Rasur eine Woche her war. Die Falten um die Augen spannten sich an, als er ruhig den Blick an sie wandte. Und etwas tat. Er bewegte sich.
Maresta hielt augenblicklich die Luft an, ihre Muskeln spannten sich wie Drahtseile. Und dann wich die Luft aus ihren Lungen, bis ihr Herz der einzige Laut war, den sie hörte. Die Ritter fassten nach den Griffstücken der Waffen, kamen näher, während sich Maresta unbewusst nach hinten lehnte.
Der Mann sah sie an, nahm schier in Zeitlupe die Hände an die Seite und schien kurz zu warten. Dann drehte er den Kopf nach links, nach rechts, beobachtete jedes Augenpaar, das ihn misstrauisch musterte. Schließlich wieder zu ihr. Der Oberkörper beugte sich vor, der Blick wurde gesengt. Dann knickten seine Beine ein, die Knie berührten den Teppich und die Handflächen ebenso. Maresta wusste nicht, was geschah, als der Mann die Stirn niedersenkte und sich vor ihr verneigte.