Man stelle sich vor, wie es wäre, in einem völligen Chaos zu stehen. Von der Ordnung, die man sich zurechtgelegt hatte, nichts mehr zu haben, und von der kompletten Organisation anderer abhängig zu sein.
Ich, ein Mid-Dreißiger, der eigentlich in der Blüte seines Lebens stand. Von Beziehungen hatte ich genug, von meiner Arbeit umso mehr. Jung, sportlich, gutaussehend, landete ich durch den relativ offenen und lockeren Charakter oft einen Treffer bei meinem Gegenüber und machte mir so mehr Freunde als Feinde. Nur Spießer konnte ich nicht leiden, doch Gott sei Dank war ich davon bisher weitestgehend verschont gewesen.
Der Job, für den ich mich bereits in jungen Jahren entschieden hatte, führte mich durch eine harte Ausbildung, bis ich mich nun endlich Polizist schimpfen durfte. Ich durfte nun endlich dem Verbrechen in den Hinter treten, den Bösewichten zeigen, wo der Hammer hing und schlussendlich das Land seinen Frieden bringen…oder vielmehr verteidigen. Das war ein hartes Stück Arbeit, dieses ganze Schichten, wenig Zeit für seine Freunde und an Wochentagen arbeiten, wo andere ausschliefen. Dennoch, es lohnte sich. Allein dafür, wenn hübsche Frauen dich nach deiner Nummer fragen und man eiskalt: „110“, sagen kann.
Bis zu dem grauenhaften Tag, als es draußen regnete, fühlte ich mich ebenso ausgeglichen wie auch glücklich. Es war eine Nachtschicht angesagt, die letzte Nachtschicht hatte ich viel gezogen. Ein Besoffener hatte wieder gemeint, mit einer Schlägerei die Zeche prellen zu können. Als wir dieses Problem endlich geklärt hatten, erfuhren mein Streifenkollege und ich von einer Auseinandersetzung zwischen einem Pärchen am Bahnhofsvorplatz, das eigentlich sich um das Geld für ein Ticket gestritten hatte. Doch relativ schnell kam heraus, dass beide Drogen bei sich hatten, und sich das verdiente Geld nicht teilen wollten.
Man könnte tausend Geschichten erzählen, die einen nur den Kopf schütteln lassen, dennoch hieß es im deutschen Staat: Mann muss alles aufschreiben, dokumentieren, verschriftlichen. Stöhnend machte ich mich darüber her, die Akte zu erstellen und den Schreibkram so schnell wie möglich erledigt zu haben. Müde biss ich in die Birne, als ich die Anzeige entgegenlaß. Es juckte mich bereits in den Fingern, endlich wieder mit dem Auto rausfahren zu können, als mein Diensthabender Gruppenleiter Jens mich anrief. Ich ließ das Obst sinken und nahm den Anruf an.
„Ben, was machst du grad?“, fragte er, während ich ihm die gewünschte Antwort gab. „Gut, mach, dass du dich zum Chef bewegst, der will dich sehen!“ Erst stutzte ich. „Wieso?“, kam die Frage auf, während ich bereits mir Gedanken machte, ob etwas vorgefallen sei. Doch keine meiner Gedanken führte zu irgendeinem zufriedenstellenden Ergebnis.
„Keine Ahnung, hat er nicht gesagt. Diskutier nicht, sondern beweg dich!“ Dass der Gruppenleiter mich derart scheuchte, war nichts Neues. Dennoch schickte die Nervosität einige Schweißtropfen auf meine Stirn, die ich augenblicklich wegwischte. „Okay“, ich legte auf und ging die Treppen hinauf zum Büro. Gedanken schossen durch den Kopf, die mir Angst machten. Hatte nicht letzte Woche jemand zum Chef müssen, weil er unberechtigter Weise seine Waffe mitgenommen hatte, um sich damit auf einer Party zu brüsten? Und letzten Monat gab es doch einen Angriff auf den Polizeibeamten, doch stand nach der Fesselung zu lange auf der am Boden liegenden Person. Die Handys und soziale Medien machten alles Weitere, sodass diese sogar vom Dienst suspendiert wurde. Als Polizist stand man immer irgendwie mit einem Bein im Grab und jeder kannte mehrere Kollegen, die Disziplinarmaßnahmen hinter sich hatten, die alles andere als schön waren. Je höher ich also ging, desto nervöser wurde ich. Doch schließlich stand ich vor der Tür, klopfte an und wurde hineingebeten.
„Ben, schön dich zu sehen“, faselte Wolfgang, mein Chef, zu mir, bat mich zu setzen und setzte sogleich an: „Ich machs kurz und schmerzlos. “Ich blickte auf, sah in das durch jahrelange Schichtarbeit gealterte Gesicht und die gelben Augen, dessen Weiß durch das Rauchen vertrieben worden waren. „Du wirst versetzt.“
Jetzt blinzelte ich einmal, dann zweimal. „Was?“, fragte ich leise, denn ich verstand nichts mehr. „Wieso ich?“
„Nicht meine Entscheidung. Die höchsten Tiere haben das entschieden. Du weißt doch, ich hab nur silberne Sterne auf der Schulter, keine goldenen“, er sah mich mit einem müden Blick an. „Das Revier am Flughafen braucht junge und...“, ich unterbrach seine Ansprache: „Der Flughafen? Wolfi, das ist nicht dein Ernst! Das strebe ich, weil nichts los ist, keiner dort will jemals hin. Was soll ich denn? Den Altersdurchschnitt senken und Kaffeekochen über Nacht? Das sind 50km von hier. Ich muss mir eine neue Wohnung suchen und was wird aus meinen Freunden? Bitte, kannst du nichts tun?“
„Nö, aber wie gesagt, dass ich nicht auf meinen Mist gewachsen.“
Ich sah ihn verzweifelt an, versuchte mir etwas zusammen zu reimen, irgendwas, doch wusste, es brachte nichts. Ich musste tun, was mir aufgetragen wurde. Jedenfalls vorerst, bis der Personalrat einschreiten konnte. Wolfi gab alle Informationen grob weiter, verwies auf die verschickten E-Mails und nickte mir träge zu. Er wollte es ebenso wenig, doch auch ihm waren die Hände gebunden.
„Das packst du schon“, versuchte er mich aufzumuntern. Doch ich hörte nicht hin, ging, als alles gesagt war.
Die Birne lag mit einem Bissen noch auf dem Schreibtisch, als ich sie nahm, wütend in den Mülleimer schmiss und mich umdrehte. Ich blickte in ein Gesicht, das grinsend zu wissen schien, was gerade vorgefallen war. Jens nickte.
„Ein Problem weniger“, flüstere er, als er wegging und mich sprachlos zurückließ.