Ihr Schädel dröhnte, die Kopfschmerzen kamen sofort, als das Bewusstsein erwachte und ihr die Welt eröffnete. Noch waren ihre Augen geschlossen. Ihre feine Wahrnehmung setzte ein, erkannte eine kühle Umgebung, etwas Hartes an ihrem Rücken. Womöglich eine Wand? Vielleicht, dachte sie und versuchte, ihre Hände danach auszustrecken. Dass ihre Handgelenke schmerzten, als wären sie wund gescheuert, kam ihr aus irgendeinem Grund nicht seltsam vor. Bereits der erste Gedanke hatte etwas von Entführung oder einem Kellerloch beinhaltet. Unweigerlich würde man sonst keine Frau an etwas binden. Erklären würde das jedenfalls diesen schrecklich modrigen Geruch an Pisse und halb verrotteten Leichen. Vielleicht war es auch nur der Schock oder die immerwährenden Schmerzensreize an ihren Schläfen, weil sie noch so ruhig hier verweilte. Erinnerungen an Feinde und ähnlichem gingen ihr durch den Kopf und gar erwartete sie eine Horde Männer vor sich, die sie lasziv anlächeln würden, als sich die Augen öffneten. Wie erwartet, ruhte der Raum vor ihr in Dunkelheit ohne einen Funken Licht. Umrisse von einem Tisch, einem Stuhl, einer Art Küchenzeile und einer offenen Tür kamen nach und nach zum Vorschein.
Die Frage nach dem Warum und dem Wie kamen erst nach ein paar Minuten. Zuvor versuchte sie an den Fesseln zu ziehen, spürte aber nur den rauen Tau und die schmerzende Haut. Die Kopfschmerzen ließen nach, während sie angestrengt durch ihr Gefängnis spähte und nach Bewegungen Ausschau hielt. Vielleicht ergötzte sich irgendein alter Sack daran, wie sie hoffnungslos an den Seilen zog und verhielt sich ruhig, damit das Überraschungsmoment mit ihrem Schock und der Panik ihn noch mehr erregen würde. Sie konnte es sich vorstellen, doch ihr Gefühl riet ihr nicht nur zur Ruhe. Irgendetwas sagte ihr, dass sie nicht hier saß, weil ihr Körper das Ziel des Entführers war.
Zeit verging. Der Rücken tat weh, ihre Haut mittlerweile blutig gescheuert. Doch die Seile lockerten sich mal zu mal. Noch war sie allein.
Ein Windhauch, Gänsehaut. Hektisch sah sie zur offenen Tür, doch keine Bewegungen verrieten ihren Entführer. Stattdessen räusperte sich jemand, Stuhlbeine quietschen unter dem alten, muffigen Boden. Verdammt.
Noch ein Geräusch, dann Stille. Sie wagte es nicht zu atmen, dachte aber nicht daran, still dazusitzen. Immerhin wusste der Fremde, dass sie hier gefesselt war.
„Was willst du?“, knurrte sie wütend und verlieh ihrer Stimme einen drohenden Unterton. Geld hatte sie keines, man würde sie auch nicht freikaufen. Eher würde ihre Mutter sterben, als ihre Tochter in solch einer Situation den Arsch zu retten. Und wenn ihr inneres Gefühl Recht hatte, und der Fremde sie hier und jetzt nicht vergewaltigte, was wollte der Kerl dann von ihr? Wenn es überhaupt ein Typ war.
„Gute Frage“, murmelte der Unbekannte. Eine feine Stimme. Ruhig, nicht bedrohlich. Geduldig. Würde sie eine Beschreibung abgeben müssen, hätte sie auf einen großen, nicht sonderlich muskulösen Kerl getippt. Anzugträger schien ihr zu abwegig in dieser Baracke von Gefängnis. Doch Vorsicht war besser als Nachsicht.
„Danke“, gab sie frech zurück. Was sollte sie auch anderes sagen? Er schwieg, stöhnte langatmig auf, als hätte er sich etwas anderes erhofft. Minuten vergingen. Nichts passierte.
„Dass es so lange dauern würde, hätte ich nicht gedacht.“ Ein Satz, vollkommen aus dem Zusammenhang gerissen. Es war ihr aber auch egal, was der Kerl erwartet hatte, denn sie zog weiter an den Fesseln. Sie ging davon aus, dass er von ihren Befreiungsaktivitäten wusste. Etwas anderes schien ihr auch nicht logisch. Wenn sie hier sterben sollte, dann wollte sie wenigstens es versucht haben, für ihre Freiheit zu kämpfen. Widererwartend rührte sich der Fremde aber nicht, sondern redete weiter.
„Man sagte mir, du seist die Richtige.“
Sie zerrte weiter an den Fesseln. „Für was?“
„Nun ja“, gab er zu Bedenken und räusperte sich erneut. Ein Stuhl knarrte, als würde sich der Fremde gegen eine Lehne drücken. „Du bist jemand, den ich gesucht habe. Oder ich denke, dass du es bist.“
„Und was gibt dir Annahme dazu, ich wäre es?“
Er ging darauf nicht ein, sondern stellte sich vor.
„Ich bin derjenige, weswegen du hier unten sitzt.“ Die Stimme nahm einen rauchigen Ton an, doch schlichtweg nicht ernstzunehmend. Er spielte nicht oft Entführer.
Der Fremde fuhr fort: „Es war nicht leicht, dich zu finden. Ohne Namen und Stadt…“ Sie unterbrach ihn.
„Ist auch nicht verwunderlich, wenn man keinen hat.“ Stille.
„Keinen Namen? Wie kannst du keinen Namen haben?“ Verwunderung lag in der Stimme, dann schnaubte er. „Das erklärt einiges.“
Sie reagierte nicht. Wartete ab. Ihre Fesseln waren nun so locker, dass sie aufstehen würde können.
Der Stuhl knarrte wieder. Er klatschte in zwei Händen. Ein plötzliches Deckenlicht blendete ihre Augen und entblößte einen großen Mann mit langen Haaren und edlen Kleidern.
„Du kommst mit mir“, bestimmte er und schnippte erneut mit den Händen. Wie durch Zauberhand spannten sich die Fesseln enger um ihre Haut. Sie zischte schmerzvoll auf, doch er ignorierte ihre Reaktion. Trotzig starrte sie ihn an, hinterfragte diese Magie nicht, sondern wollte nur gehen. Was hatte er mit ihr vor? Mit ihr, der Frau ohne Namen?