Glas stürzte zu Boden, als Tim aufschreckte und vom Stuhl sprang. Seine Gabel fiel klappernd auf den Teller, während seine kleine Schwester Tina aufschrie und mit weit geöffneten Augen auf die Türschwelle starrte. Die Gestalt, die sich krümmend an dem Rahmen festhielt, war Vater. Doch so, wie er nun aussah, wirkte alles wie in einem Actionfilm.
„Papa!“, kreischte Tina, während Mutter schnell aufstand, Tim beiseiteschob und schnell zu ihrem Ehemann stapfte.
„Heinz!“, keuchte sie und schob ihre Hand auf seinen Brustkorb. Tim sah, wie dieser sich schwerlich hob und senkte. Sofort kamen ihm die Gedanken von blutenden Wunden, abscheulichen Kratzern und verkohlten Gliedern, doch sein Vater hatte nur verrauchtes Haar, stand bestialisch nach Verbranntem stank, aber er war ansonsten kerngesund. Schweiß klebte ihm die langen Haare an die Stirn, während Tina neben Tim anfing zu weinen.
„Tim, kümmere dich um deine Schwester!“, befahl seine Mutter, während Vater sich zur Couch schleppte. Mit erschöpften Bewegungen erkannte der Vierzehnjährige, wie die Ziervase ebenso zu Boden krachte wie ein Wasserglas zuvor. Das Blumenwasser ergoss sich auf dem Teppichboden, während das weise Hemd voller brauner und schwarzer Flecken war. Mutter stapfte durch das Nass und setzte sich mit einem mürrischen Ausdruck neben ihn.
Tina dagegen war die Einzige, die ihr Entsetzen in Tränen vergoss, obwohl sie sicherlich weniger verstand als Tim selbst. Die fehlende Komponente, einen verletzten Vater zu haben, der sich mit zusammengebissenen Zähnen auf dem Sofa von Mutter versorgen ließ, die wiederum mit ernstem Gesicht zielsicher den Oberkörper und Schulterpartie abtastete, wollte ihm einfach nicht in den Sinn kommen.
Wurden sie verfolgt? Hatte Vater Feinde? Warum sollte ein einfacher Kfz-Mechaniker Feinde haben? Schulden hatten sie keine und der einsame Vorort war nicht für seine Raufereien und Gangster bekannt. Sicher, Taschendiebstähle gab es überall, aber selbst Mutter als Krankenschwester schien für ihn kein Grund zu sein, einen wehrlosen Familienvater zu attackieren. Tim nahm seine Schwester in den Arm, schob ihren Kopf an seine Brust und sorgte dafür, dass sie nichts mehr wahrnahm außer seine hektischen Atemzüge und den donnernden Herzschlag. Er würde die Frage, was geschehen war, nicht beantwortet bekommen.
Mutter verdankte ihrem Job viel, wodurch sie schneller als andere aus dieser Schockstarre herauskam, und Vater verarztete. Aber er war doch nirgends verletzt.
„Zieh das Hemd aus“, sagte sie und Vater kam dem nach. Tims Augen konnten nicht von der rötlichen Stelle an seiner Hüfte weichen, von dessen Zentrum, einem rötlichen blutroten Punkt, sich Adern ausstreckten und die ganze Seite des muskulösen Körpers bedeckten. Es sah aus wie ein Infekt, ein Virus, ein Gift. Nun kamen doch Worte aus dem Mund des Jungen.
„Was…?“ Doch Vater ignorierte seine Kinder, während Mutter mit einem Nagel in dem Punkt rumdrückte und er zischend die Luft einzog.
„Du warst mal sanfter!“, schnauzte Heinz wütend, während Mutter zielgerichtet Fragen stellte. Zwischen einem Ja, er war entkommen, und Nein, er war nicht verfolgt worden, kam noch das Wort >Fifer< bei Tim an. Es dauerte einige Minuten, bis Mutter fertigt war und ihren Ehemann sorgenvoll musterte.
„Fifer…? Meinst du das wirklich...?“ Als wäre es ein Codewort, ein Geheimcode, den nur beide kannten, schauten sie sich an und schienen in Gedanken weiter zu kommunizieren. Bis Tim seine Stimme wiederfand und schrie: „Was…was ist hier los?“
Die Vierzigjährige drehte sich um, während Vater matt lächelte. „Nichts...mein Sohn.“
Mutter dagegen entschied sich, ein wenig mehr Wahrheit ans Licht zu bringen. „Wir müssen verreisen, Tim. Ich werde dir später alles erklären.“
Damit stand Mutter auf und holte etwas Seltsames aus dem Schrank. Ein Stab, am Ende leicht gebogen und spitz. Der Zweite funkelte mit mehreren Edelsteinen, die von innen heraus leuchteten. Tims Haut kribbelte komisch, während Tina in seiner Umarmung die Tränen gar nicht mehr unter Kontrolle hatte.
Wie aus dem Nichts entstand eine violette Linie, von welchem kleine Blitze zu allen Seiten schossen.
„Maria!“, schrie Heinz und stand auf, schob seine Frau hinter sich. Den Stab hielt er mit kaltem Gesichtsausdruck auf das fremde Objekt. Tim dagegen keuchte auf, krabbelte mit Tina unter den Tisch und sah zu, wie Mutter ihren Stab in Richtung der Linie hielt, während Vater schmerzerfüllt die Augen schloss. Als würde er mit etwas abschließen.
„Vater…Was ist das?“, wollte Tim schreien, doch in dem Augenblick drehte sich die Linie und ein Kreis entstand inmitten des Wohnzimmers. Nein, es war ein Portal, wie er es immer aus den Marvelfilmen mitbekam. Jetzt verstand der Junge gar nichts mehr.
Eine Gestalt mit seltsamen Kleidern trat mit zwei Weiteren heraus. Die Waffen, die wie Lanzen aussahen, wurden in Richtung seiner Eltern gehalten. Die vorderste Gestalt, hochgewachsen und schlank, sah durch den Raum, erkannte die kauernden Kinder und lächelte träge. Seine Augen waren so finster, dass Tim keine Iriden erkennen konnte. Und plötzlich schnellte eine Schlangenzunge aus seinem Mund, als würde er die Umgebung wahrnehmen wie das Reptil selbst.
„Verschwinde!“, zischte Mutter und preschte vor, während eine Wache sich ihr in den Weg stellen wollte. Doch ein Schnipsen des Schlangenmannes und Mutter zerfiel in tausend Teile. Einfach so.
„Mama…“, heulte Tina, während Tim erst jetzt mitbekam, dass die Sechsjährige gerade gesehen hatte, wie ihre Mutter ins Nichts eingetaucht war. Schnell zog Tim sie wieder an sich und drückte ihren kleinen Leib gegen seinen, während sich die gruselige Gestalt mit schwarzen Augen und langem grünen Seidengewand hinkniete und die hohle Hand ausstreckte. Als wäre er selbst dabei, sah Tim im Augenwinkel, wie Rot aufblitze und die bereits weinrote Couch mit frischem Blut bespritzte. Während Vater von beiden Wachen bekämpft wurde, konnte Tim nicht anders, als in diese Schwärze zu starren. Hinter Zischen und Schreien, Keuchen und Weinen fror der Moment ein. Das Grinsen, ein erneuts Züngeln mit der gespaltenen Zunge und schließlich ein aufmunterndes Lächeln.
„Seid gegrüßt, mein Prinz. Ich habe Euch endlich gefunden. Kommt mit, ich habe Euch einiges zu zeigen.“