TRIGGERWARNUNG: Erwähnung von Mord
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Müde rieb sich Flip über die fettigen Haare. Das nassgeschwitzte Hemd war mittlerweile so durch, dass er sicher unangenehm stank und auch seine eigene Nase nahm den Geruch nach tagelanger vernachlässigter Hygiene bei jedem Atemzug auf. Die Augenringe erweiterten sich Nacht um Nacht, während sein Verstand so klar war wie nie zuvor. Während Kaffee sein Lebenselixier war und allein Toast er zur Mahlzeit aß, würde sich Flip keine Pause gönnen können.
„Das würde nicht funktionieren“, antwortete Chiara auf seine Frage.
„Wieso nicht?“, flüsterte er, obwohl er die Antwort schon kannte. Neben ihm schnaubte Grimm, die mit verschränkten Armen auf eine Antwort wartete. Das Wort >nicht< gab es in ihrem Wortschatz nicht.
„Weil der Chief Inspector jedem von uns ein Disziplinarverfahren reindrücken würde, wenn das vorbei ist. Wir sind ja jetzt schon drauf und dran, unseren Kopf zu riskieren.“
„Und selbst wenn, es ist besser als nur stumm daneben zu sitzen und Däumchen zu drehen“, fauchte Grimm in ihrer gewohnt lauten und klaren Stimme. Das raspelkurze Haar mitsamt dem grünen T-Shirt, der Multifunktionshose in Tarnfarben und den schwarzen hohen Stiefel erklärten ihr Charakter nur zu gut. Ausdrücklicher musste sie eigentlich nie werden, denn allein der eiskalte Blick der ebenso kühlen blauen Augen zeigte ihre Abneigung gegen jeden Vorschlag, der von den einzelnen Teammitgliedern geäußert wurde. Flip klingelte es jedes Mal in den Ohren, wenn sie sich wieder aufregte, also winkte er ab. „Chiara hat recht. Würden wir einfach das Haus durchstöbern, würden wir sicher was finden, aber uns werden mehr Steine in den Weg gelegt, als ich vermutet habe.“
Der Dreitagebart wucherte bereits auf seinem fahlen Gesicht, doch Flip wägte alle Optionen beim Darüberstreichen der rauen Haut gedanklich ab, während er die Fakten zum Fall noch einmal laut wiederholte.
„Wir haben eine vermisste Familie, die Millers, die vermutlich als Geisel gehalten wird. Eine unbekannte Tätergruppe, die zielgerichtet auf etwas aus ist, das wir bisher nicht wissen. Letzte Woche und gestern wurden zwei Kinder der Acht-köpfigen Familie im Wald nahe des Entführungsortes entdeckt. Jede Suchaktion in weitem Umfang führte zu keinem Ergebnis, während die Medien uns im Nacken sitzen. Eine typische Racheaktion scheint es nicht gewesen zu sein, denn beide Opfer hatten derart unterschiedliche Verletzungsmuster, dass man von mindestens zwei Tätern sprechen könnte. Dies ist aber auch durch die Rechtsmedizin nicht bestätigt worden, denn die Obduktionen hatten ergeben, dass jeweils beide Kinder an unterschiedlichen Orten durch unterschiedliche Herangehensweise ermordet wurden.“
„Ertrunken und enthauptet“, fasste Chiara, die Rechtsexpertin im Team, zusammen. Sie schob ihre dicke Brille hoch, während sich die schwarzen Locken um ihren Finger wickelten. Sie wirkte als Einzige in der Gruppe in ihrem blauen Kostüm noch gepflegt genug, um vor den Kameras oder dem Chief eine Aussage machen zu können. Sie wirkte ruhiger, als Flip sie kannte. Doch er wusste, dass hinter diesem kleinen Köpfchen eine Menge Wissen stand, die Chiara abzurufen versuchte. Ihre Chancen als Ermittlungsteam standen schlecht, und dass wussten alle vier.
Spy, der jüngste des Teams und gleichzeitig das IT-Genie in allen Belangen, nebenbei auch Hobbypsychologe, räusperte sich und hielt sein Handy in die Höhe. Er spielte einige Sekunden schweigend damit herum, während alle anderen gebannt seine dürre Gestalt starrten. „Red´ schon“, zischte Grimm wütend und Spy schreckte auf.
„Nebenbei haben wir keinen Hauptverdächtigen, außer jemanden, der hinter diesem Fall stecken könnte.“ Er drehte das Objekt und zeigte so das von ihm erstellte Diagramm.
„Michael Hunter, derzeitiger Abgeordneter im Senat, enger Freund der Familie Miller.“ Mittels einem Fingertippen auf dem Display erweiterte sich das Schaubild und gab einige Verbindungen zu den Eltern, den Kindern und den Großeltern der Millers preis mitsamt den individuellen Informationen jedes Einzelnen. Neben den Opfern und dem bisherigen einzigen Tatverdächtigen standen einige weiteren Namen darauf, die jedoch alle nur spärliche Informationen aus den Vernehmungen liefern konnten oder ein beweisbares Alibi zu den Tatzeiten aufweisen konnten.
„Und wieso durchsuchen wir nicht einfach das Haus des Abgeordneten?“, grummelte Grimm erneut und erzeugte damit nur weitere Kopfschmerzen, die Flip durch kreisende Bewegungen an den Schläfen zu unterdrücken versuchte. „Das haben wir eben schon gesagt. Keine Spur, kein Hinweis führt uns zu irgendeinem Ergebnis, der Chief Inspector will keine politische Misere draus machen und selbst die Toten erzählen nicht genug Belastendes, dass uns zu einem Durchsuchungsbeschluss im Haus eines hohen Politikers führen könnte. Deswegen sind wir ja hier.“ Grimm schüttelte stumm den Kopf und ignorierte Flips leidiges Stöhnen.
„Wieso sollten wir uns sonst in einem verrotteten Schuppen in dem verlassenen Waldstück von Chiara treffen und den Fall besprechen?“, bemerkte Spy, der mit eingezogenen Schultern den wütenden Blick der Militärdame standhielt.
„Korruptionsverdacht?“, mutmaßte Chiara mit ihrem spanischen Akzent. Sie sprach das aus, was alle vier vermuteten. Stille legte sich über den Raum. Die flackernde Lampe über ihnen und die Ruhe der Nacht sorgte für ein Gänsehautgefühl, dass Flip nicht unterdrücken konnte. Er war seit geraumer Zeit der Leiter des Teams Delta, dessen Mitglieder nun vor ihm standen. Er vertraute ihnen, vertraute auf ihre Fähigkeiten und ihren Mut, sich hier heimlich versammelt zu haben, um ein weit größeres Gebiet zu betreten, für dass sie eigentlich keine Zugangsberechtigung hatten.
„Das wäre wenigstens eine Sternstunde für das Team, das eigentlich nur lappige Eigentumsdelikte bearbeitet“, stampfte Grimm mit wölfischem Grinsen die negativen Argumente in den Boden.
„Und der Beginn von dutzenden Diszis, die dann auf uns niederhageln würden“, seufzte Spy, während er auf dem Handy tippte. Flip gähnte zur Antwort. Es war ihm herzlich egal, was ihn danach erwartete und wem er vor Gericht seine Argumente liefern musste, dass die Richtigen hinter Gitter landeten. Diese Geste war eindeutig, denn keiner der Beteiligten sagte etwas. Sie schauten den Vierzigjährigen nur erwartungsvoll an, der mit verschränkten Armen nachdachte.
„Spy, hacke dich ins System, ich brauche alle Daten über den Fall, seien sie noch so unbedeutend.“ Spy nickte, hob nicht einmal den Kopf, während er weiter das Mobilgerät bediente. „Chiara, ich brauche die Rechtslage bei Korruptionsverdacht, und halte mir die Presse fern.“
„Ay“, bemerkte die Mexikanerin, während Grimm ihren Befehl entgegennahm. „Grimm, besorg mir die Obduktionsberichte, spreche mit den Rechtsmedizinern.“ Mehr brauchte er nicht zu sagen, denn sie wusste, dass sie sich bei Gelegenheit auch mal in eines der Häuser der Opfer schleichen sollte, wenn keiner genauer hinsah, um bisherige versteckte Beweise zu sichten. Die einstige Agentin war wie ein Schatten, der nur dann gesichtet wurde, wenn sie es wollte. Ein Plan fertigte sich in seinem Verstand, während der Kriminalbeamte lächelte.
„Und ich bestatte dem Weisen Haus ein Besuch ab.“