Katherina stöhnte laut auf, als ihre Muskeln zum Zerreißen gespannt waren. Sie musste vor Anstrengung die Augen schließen und die rasenden Gedanken niederhalten, die sie augenblicklich umkamen. Sie musste noch ihre Hausaufgaben machen, morgen stand eine Physik-Klausur an und dann noch Frederick, welcher…
„Katherina!“ Katherina fuhr hoch, als sie mit scharfer Stimme ihren Namen hörte. Sofort nahm sie wieder Haltung an, drückte ihren Rücken in ein Hohlkreuz und vollendete die Bewegung. Madame Duboix, eine Mitfünfzigerin, stolzierte mit leichter Gangart auf die Fünfzehnjährige zu und betrachtete mit ernster Miene ihre Position. Mit einem erhobenen Finger tadelte die Frau ihre Figur, stach ein, zwei Mal auf Bein und Arm und nickte anschließend.
„Auch wenn du eines unserer Talente bist, heißt das nicht, dass du dich nicht konzentrieren musst!“, sagte sie mit strengem Ton. Da Widerspruch nichts nützte und Katherina ihren Sport ernst nahm, nickte sie zum Verständnis. Madame Duboix klatsche in ihre Hände, als die Klaviermusik aufhörte zu spielen und die zwölf Jungen und Mädchen ihre Lehrerin anstarrten. Alle hatten sich an den Wänden des Raums aufgestellt, die mit Spiegeln versehen waren. Dadurch wirkte der Raum größer, wenn auch luftiger und ein wenig kalt. Das Licht beleuchtete nur das Zentrum, wodurch man die eigenen Figuren schlecht bewerten konnte. Wenn Katherina sich selbst berichtigen wollte, wünschte sie sich manchmal das gute Licht einer besser ausgestatteten Halle. Doch sie war stolz, Ballett zu tanzen und sie würde in Schwanensee den schwarzen Schwan spielen dürfen. Zwar nur in der Zweitbesetzung, aber es war eine große Rolle.
Madame Duboix klatschte wieder. Ihr russischer Akzent stach deutlich hervor, wenn sie lauter redete oder sie sich aufregte. Manchmal war es schwer, diesen Unterschied auszumachen, doch diesmal schien sie mit dem Training zufrieden.
„Nächste Woche, meine Lieben, findet unser Auftritt statt. Vergesst nicht, davor die Kür nochmal zu üben. Bis Samstagmorgen steht die Halle zu Verfügung mit Miss Pottens.“ Dabei zeigte sie auf die Klavierspielende Dame in der in Schatten gehüllte Ecke, „wird uns jeden Tag begleiten. Trainiert hart, denn es ist eine Chance, dem Großstadtverein zu zeigen, dass auch aus einem kleinen Verein, wie unserer, ein großer weißer Schwan werden kann.“ Damit verabschiedete sie sich von allen. Als Katherina zur Dusche gehen wollte, wurde sie von Madame Duboix aufgehalten. „Warte bitte noch, Katherina.“, bat sie und wartete, bis auch Miss Pottens den Raum verlassen hatte. Katerina verwirrte es ein wenig, dass ausgerechnet sie noch mit ihrer Lehrerin reden sollte. Im Geiste zählte sie die letzten Trainingseinheiten auf und fand keinen Grund, weshalb sie noch länger bleiben sollte. Außerdem schmerzte der Rücken und ihr Bein tat ihr wieder weh.
„Katherina“, fing Madame Duboix an. „Du warst heute ein wenig...unkonzentriert. Stimmt etwas nicht?“, fragte sie und Katherina schaute auf. Der Dame entging wohl nichts. „Naja“, fing das Mädchen an. „Es gibt da einen Jungen…“, Madame winkte ab. „Lass den Jungen Junge sein. Er wird dich nicht daran hindern, wie unglaublich du nächsten Samstag tanzen wirst.“ Sie klatschte begeistert in die Hände. „Außerdem bist du wirklich gut geworden. Ich meine...“, sie wollte etwas ergänzen, doch fand keine Worte. Katherina nickte zum Verständnis. „Ich habe Karten für ihn und meine Mutter besorgt. Vielleicht kommt er und er sieht mich.“ Über diese Vorstellung lächelte Katherina.
„Nun. Vergiss nicht“. Sie hob tadelnd den Finger „Konzentration ist beim Ballett das A und O. Wenn du dich nicht konzentrierst, vergisst du alles und weißt nicht mehr, was du tust.“ Diesen Tipp konnte Katherina gebrauchen, auch wenn sie sehr viel um die Ohren hatte. Sie bedankte sich und ging in die Umkleiden. Die anderen Mädchen waren bereits gegangen und Katherina wartete mit ihrer vollbepackten Tasche auf dem Parkplatz. Mit ihrer Mutter fuhr sie dann nach Hause.
Daheim angekommen war Katherina vollkommen fertig. Doch sie zwang sich, eine warme Dusche zu nehmen. Sie setzte sich daher auf den Klodeckel, ihre Gedanken schweiften ab und sie ging im Geiste die Choreographie nochmal durch. Ihre Augen huschten über die Badezimmerdeko, die auch ein Bild von ihr beinhaltete. Sie mit Frederick vor dem Unfall. Stöhnend schraubte sie ihren Fuß ab, legte ihn neben die Toilette, massierte die schmerzenden Stellen an ihrem Stummelbein und hüpfte in die Dusche. Der warme Strahl voll Wasser wärmte ihren Körper und sie stöhnte erleichtert auf. Eine Woche. Sie musste sich konzentrieren.
Dann öffnete sie die Augen, nahm energisch die Shampooflasche und formte ihre Gedanken. Sie würde zeigen, was sie konnte. Sie würde zeigen, dass sie trotz ihres amputierten Beines die Zuschauer verzaubern konnte. Und dann würde sie wie ein Schwan in die Lüfte fliegen.
Mit diesem neu gefassten Mut und Stolz setzte sich Katharina an den Tisch und lernte für den morgigen Tag.