Ich stapfte durch den hohen Schnee, der meine Füße bereits vor Stunden zum Gefrieren gebracht hatte.
„Verdammte Kälte“, fluchte ich und zitterte unter der dicken Daunenjacke. Müde schauten sich meine Augen nach einem Ort um, dem eisigen Wind in diesen Höhen zu entkommen, doch wie erwartend war bis auf ein paar spärliche Bäume nichts vorhanden, was mir Wärme oder Schutz spenden konnte.
Müde trabte ich weiter und zog die Gurte meines Rucksacks stramm. Einen Kilometer, dachte ich mir und rief die Karte in den Sinn, die ich gestern schier auswendig gelernt hatte, so sehr habe ich meine Route geplant.
Ich setzte einen Fuß vor den anderen, versuchte immer jeden Schritt mit Bedacht zu wählen. Mein schwerer Atem ging in dichten Rauchschwaden in die Lüfte und selbst meine Lungen pressten mühsam den nächsten Atemzug hervor. Meine Glieder schmerzten, mehr von der Kälte wie von dem Schmerz des zwanzig Kilo schweren Rucksack, der mich seit meiner Reise begleitet hatte.
Es musste gefühlt Stunden vergangen sein, als ich die Höhle entdeckte und endlich Ruhe fand. Ich stapfte der Dunkelheit entgegen und entfachte ein Feuer. Müde massierte ich mir die Füße und zog die nassen Kleider aus, sogleich die Trockenen an. Meinen Schlafsack bereits auseinandergerollt schlüpfte ich in die wohlige Wärme und legte mich nah am Lagerfeuer ab. Ich sah die Karte wieder an.
Ein Tagesmarsch, dann war ich endlich da.
Am nächsten Morgen wachte ich mit Vogelgezwitscher auf, obwohl ich wusste, dass man bei einer solchen Höhe kein natürliches Leben erwarten sollte. Fünftausend Meter über dem Meeresspiegel erwartete ich keine Vögel, die mir fröhlich ihr Lied trällerten, während ich bald angekommen war.
Ich schleppte mich trotz der schlechten Nacht auf die Beine, sammelte alles zusammen und lief weiter. Meine Armbanduhr zeigte acht Uhr. Bis ich da sein sollte, müssten nur noch zwei Stunden vergehen. Dann würde ich an die Spitze ankommen. Würde ich mein Ziel erreichen?
Ich hinterließ im Schnee klaffende Löchern, die durch den Wind wieder zugeschüttet wurden, aber dennoch unverkennbar waren, doch ich schaute nicht zurück.
Das würde Aufgeben gleichkommen, sagte ich mir.
Und endlich sah ich einen gelblichen Spalt in meinem Blickfeld zwischen dem unendlichen Weis und dem grauen, mit Nebel durchzogenen Himmel. Ich atmete erleichtert aus und sah die Fahne, wie sie den höchsten Stand des Berges markierte. Ich lief vorsichtig zu ihr und blickte mich um.
Die Sonne zeigte ihre Strahlen und kämpfte sich durch das Grau und Weiß-Gemisch des Himmels. Die Wolken konnte ich fast berühren, so nah schwebten sie an mir vorbei. Das Gelb in diesem Trist war eine Wohltat und zeigte mir, wie auch sie gekämpft hatte heute für mich zu scheinen. Ich spürte ihre Wärme, wenn auch symbolisch. Die einzelnen Berge, die kleiner waren als diesen, den ich bestiegen hatte, lugten mit ihren Spitzen durch die Wolken hervor. Ich sah das Ende der Welt. Und gleichzeitig den Anfang. Ich breitete die Arme aus und schloss die Augen für den Moment. Machte mit meinem Auge ein Bild, dass ich im Leben nie wieder vergessen würde.
Eine Momentaufnahme, die sich tief in mein Hirn einbrannte.
Bis der Wecker klingelte, der weise Nebel zu einem schwarz wurde und ich meine Zimmerwände wiedererkannte. Ein Poster von Rheinhold Messner, der als Erster den Mount Everest ohne Sauerstoff erklommen hatte, hing über meinem Bett und ich sah ihn an. Dann stand ich auf und richtete mich, schließlich ein letzter Blick auf das Poster.
„Na dann, mal schauen, ob sich eine Mathearbeit wie das Besteigen eines Fünftausenders anfühlt?“
Und damit zog ich meinen Rucksack stramm, ging in den Schneesturm des bayrischen Dorfes hinaus und sah schnell die naheliegende Schule, dessen rote Fahne in dem Wind wehte. Sie war auf der Spitze des Schulturm angebracht und glich meinem heutigen Ziel, eine Mathearbeit zu schreiben. Trotz meiner Dyskalkulie. Es fühlte sich an, wie einen Berg zu besteigen. Doch wenn man einen Berg erklimmen konnte war eine Mathearbeit sicher keine Herausforderung!