Mika ließ sich Zeit, als er durch die breiten geöffneten Flügeltüren trat und sich umschaute. Das leise Murmeln der in Aula, die wie ein Kino in einem Halbkreis angeordnet war, erfüllte den Raum. Es waren schon einige hier, andere ließen noch auf sich warten. Kein Wunder, dachte sich Mika, als er auf die Uhr schaute. Es war ja noch eine gute halbe Stunde, bis die öffentliche Begrüßung der neuen Studenten beginnen würde. Einige der Doktoranten und Lehrkräfte fummelten an einem Laptop im Zentrum der Aula herum und probieren, eine Präsentation auf der weisen Leinwand zum Laufen zu bringen, während hier und da Gruppen von jungen Leuten sich leise unterhielten. Würde Mika direkt zur untersten Ebene ins Zentrum laufen, würde er mindestens dreißig große Stufen hinunterkletterten müssen. Und während er einen Platz suchte, nicht zu weit vorn, aber auch nicht zu weit hinten, musste er drei Schritte nehmen, um eine Stufe zu überwältigen.
„Wieso ist das so umständlich?“, murmelte Mika. Auf solche offiziellen Anlässe konnte er gut und gerne verzichten, doch er war nun mal hier. Er konnte von Glück sagen, dass er die Zusage für das Fach Kriminalistik in Berlin bekommen hatte. Mika hatte vor, unabhängig von Behörden sich in diesem Bereich weiterzubilden. Er war ungeheuer neugierig und ausdauernd, was das ermitteln betraf, doch die Einschränkungen, die ihm sein alter Job als Ermittler bei der Polizei in einen verkorksten Rahmen schier gepresst hatten, wollte er nicht mehr haben. Vielleicht würde er nach dem Studium wieder für den Staat arbeiten, aber erst, wenn er wusste, in welche Richtung der Kriminalistik er gehen wollte. Ob es lieber IT-Sicherheit oder doch forensische Psychologie werden würde, eher im rechtlichen Teil oder doch lieber die klassische Forensik, er wusste es nicht. Doch jetzt und heute würde er erst einmal den Tag hinter sich bringen. Der Fünfundzwanzigjährige setzte sich gerade hin, als er beim Aufblicken eine Gestalt erkannte.
Mika machte große Augen.
Die braunen Haare hatten ergraute Strähnen bekommen und waren kürzer als früher. Bereits lichtete sich das Haar am Kopfansatz, während die Schultern schlapp herunterhingen. Mika erinnerte sich an einen Mann mit gerade Rücken, doch er saß krumm auf dem Stuhl und blickte ab und an durch den Raum. Als der Mann keine drei Ebenen vor ihm in seine Richtung blickte, Mika aber nicht erkannte, war sich der Jüngere sicher, seinen alten Kollegen wiedererkannt zu haben.
Jonas.
Der Dreißigjährige hatte vor der Polizeiausbildung einen handwerklichen Beruf ausgeübt, wodurch Jonas mit den breiten Schultern immer noch eine Erscheinung an sich war. Genauso wie die rauen Gesichtszüge, die man bei der Polizei auch brauchte. Der ehemalige Star der Ausbildung, der alles wusste und alles konnte. So war Jonas gewesen. Das Sternchen seines Jahrgangs. Mika war damals erst sechzehn gewesen, als er zu Jonas hinaufgeblickt hatte. Allerdings hatten die beiden nicht viel miteinander zu tun gehabt.
Doch von dem stolzen Mann war nicht mehr viel übrig, als Mika die müden Augen sah. Er kannte den Blick eines gebrochenen Mannes, wenn er ihn sah.
Daher stand der Fünfundzwanzigjährige auf, trat hervor und stellte sich neben den sitzenden Jonas, der ihn nicht eines Blickes würdigte. Mika verschränkte die Arme und grinste.
„Na, auch hier?“, fragte er spitzbübisch. Jonas verstand recht spät, dass er angesprochen wurde, zuckte dann zusammen, als sei er aus den Gedanken gerissen worden und schaute auf. Erst erkannten die trüben, müden Augen Mika nicht, dann erhellte sich das Braun und Jonas runzelte die Stirn.
„Du fragst dich sicher, wieso ein so unglaublich gutaussehender Mann, wie ich einer bin, hier ist.“ Mika versuchte witzig zu sein. Jonas blinzelte.
„Nein, ich frage mich gerade, seit wann du so eine ungeheure Klappe hast.“ Mika musste lachen.
„Kann ich mich setzen?“, fragte der Jüngere freundlich und Jonas nickte knapp, rutschte einen Sitz weiter und lehnte sich gegen das Holz.
Beide schwiegen, als Mika sich wieder räusperte. „Hätte nicht gedacht, ein bekanntes Gesicht hier zu treffen.“
„Dito“, kam es kurzsilbig zurück. Stille.
„Ich hatte keine Lust mehr, den Hampelmann beim Ermittlungsdienst zu spielen“, machte Mika klar und versuchte es ein letztes Mal, ein Gespräch zum Laufen zu bringen.
„Du redest ganz schön viel. Mehr als früher“, bemerkte Jonas trocken. Also hatte Jonas Mika wohl doch in Erinnerung behalten. Sicherlich als ruhigen und zurückhaltenden Jungen.
„Möglich“, sagte Mika.
„Seit wann so ein Heißsporn?“, fragte Jonas. Mika meinte, eine Spur Belustigung wahrgenommen zu haben und grinste.
„Naja, Schweigen ist nur die halbe Miete.“ Jonas lachte kurz auf. Dann schwiegen beide wieder, doch diesmal war es eine angenehme Stille. Mika schaute auf die Uhr. Noch zehn Minuten.
„Wieso bist du hier?“, fragte Jonas dann und musterte Jonas. Dieser schweig erst, atmete tief ein und aus. Dann sagte er: „Ich habe einen Grund.“
Mika sah ihn an, als Jonas die Lippen zusammenpresste. Die Röte im Gesicht wich einer blassen Farbe und der abwesende Blick trat wieder in Jonas Augen. Die Züge wurden härter, während er die Arme verschränkte und zu den Lehrern blickte. Mika folgte seinem Blick und erschauderte, als Jonas sprach.
„Ich werde meine Frau und mein Kind rächen.“