Die Schreie hallten ihn ihm, als wären sie Vogelgezwitscher am Morgen. So drängend so laut, dass der Widerhall einfach nicht verschwinden wollte, sondern von vorn begann, wenn er ihn verdrängen wollte. Die Schreie junger Frauen und Männer, die es einfach nicht schafften. Wieso schafften sie es nicht?
Fergeon trat nicht vor, sondern stand stumm da und sah zu, wie ein weiterer Mann, dürr und abgemagert, in den Thronsaal gezogen wurde. Seine Kameraden zerrten die Menschen an den Schultern herein, teilweise niedergeprügelt, weil er den Anweisungen des Kaisers nicht Folge leisten wollte. An sich konnte Fergeon verstehen, dass keiner sein Leben geben wollte und er war deshalb froh, an der rechten Seite neben dem erhobenen Thron zu stehen und bloßer Zeuge zu werden, wie ein weiterer Mensch sein Ableben fand und nicht er. Die Rüstung kniff ein wenig und war schwer, und auch stank es in dem Raum entsetzlich nach Blut. Und diese Schreie. Allein deshalb könnte er, die Leibgarde des Königs, das Weite suchen. Doch seine Miene blieb gelassen und ausdruckslos.
Fergeon sah zu, wie der Dürre vor die Füße des Kaisers geworfen wurde. Während die Wachen zurücktraten und das Tor, den einzigen Ausgang des Saals, versperrten, zitterte der Arme wie Espenlaub.
„Herr, bitte, ich flehe euch an,…“, diese kläglichen Worten aus dem Mund eines armen Bauern würden den König nicht zufriedenstimmen. Wenn dieser könnte, würde er denjenigen, der vor ihm kniete wie ein erbärmlicher Hund, zwingen, den Gegenstand vor ihm anzurühren. Doch nein, er konnte es nicht. Fergeons Augen fixierten den machtvollen Runenstein, welcher auf Samt gebettet das Zentrum des heutigen Spektakels darstellte. Weder sonderlich schön noch anziehend war dieser mir roten Adern verzierte Granit. Doch machtvoll wie auch alt stellte dies das Erbstück des Kaisers dar. Derjenige, der diesen Stein freiwillig berühren konnte, ohne jämmerlich zu Grunde zu gehen, mit dem jetzigen Kaiser das neue Herrscherpaar des Landes repräsentieren. Während bereits die Kinder des amtierenden Herrschers ihr Leben gelassen hatten, wusste sich der neue Kaiser nicht mehr zu helfen, als seinen Nachfolger im Land von sich aus zu suchen. Was danach geschehen sollte, wussten nur die Götter selbst.
Auch wenn es verboten war, so direkt den Kaiser anzustarren, schaute Fergeron eine Sekunde hin und erstarrte. Selbst wenn die eiskalte Maske die eines Herrschers würdig war, so raste in dem Augenblick eine eiskalte Gänsehaut über die Wirbelsäule der Wache. Wie grausam, dachte sich Fergeon.
„Ich bitte dich. Du wirst freigelassen, wenn du es nicht schaffst“, säuselte die rauchige Stimme auf dem Thron und lächelte matt. Keiner, wirklich keiner hätte diesen Worten Glauben geschenkt. Doch was sollte der Bauer denn anderes tun? Ihm stand nur der Weg in den Tod offen.
Zögerlich betrachtete der schmutzige Mann den Stein und schluckte. Angst schnürte ihm wohl die Kehle zu, doch er versuchte es.
Und seine Hand kam nicht einmal durch die Barriere, die den Stein umgab. Plötzlich keuchte der Bauer auf, zog seinen Finger zurück und schlug hektisch um sich. Bevor die Wachen ihn erreichen konnten, traten mit einem Mal die Augen hervor und der Kopf füllte sich. Wie ein voller Blasebalg erreichte viel zu schnell der Kopf die Größe von einer Melone, bis der Druck zu groß wurde. Das ganze Schauspiel dauerte keine zwei Sekunden, doch beim Platzen des Schädels sprengte dieser den Hals mit. Der dürre Leib fiel zu Boden, die Einzelstücke der Reste blieben reglos und verteilt im Thronsaal liegen. Keiner räumte auf. Blutspritzer verzierten nun den Boden wie Tintenkleckse. Fergeon atmete kontrolliert aus und ein, er durfte nicht klein beigeben. Schnell huschten seine Augen über den Toten, der nun ohne Kommentar in den Nebenraum verfrachtet wurde.
Diejenigen, die diese Macht nicht innehatten und den Stein berühren wollten, starben. Der Arme war heute der Dritte gewesen, dessen Kopf angeschwollen war wie die Haut bei einem Bienenstich. Vorher sind Leute erstickt, verschwunden, vom Stein einsogen worden. Die Liste war lang. Doch an diesen Augenblick würde sich die Leibgarde niemals gewöhnen. An diese Grausamkeit, die den König nicht scherte. Fergeon wusste, dass diese Macht dem Kaiser nicht mehr zu Teil war. Nicht mehr ganz. Der Kaiser suchte sein Gegenstück. Würde er diesen Stein also einfach selbst anfassen, würde er vielleicht genauso sterben. Oder ihn nicht mehr benutzen können. Deshalb war es wichtig, einen Partner zu finden. Das Geschlecht spielte dabei keine Rolle. Doch so? Musste er wirklich so..?
Seine Gedanken stoppten, als der nächste Wurm über den roten Teppich gezogen wurde. Fergeon kannte diese blonden langen Haare und den vollen Brustumfang. Ihr Leib war nun von einem Kartoffelsack umhüllt, ihre blauen Flecken von den Wachen zeigten ihre wilde Natur, den Widerstand. Die Hand um den Speer klammerte sich daran wie ein Anker, als Grenadine vor dem Kaiser kniete.
Seine Grenadine. Seine heimliche Liebe.
Mit energischem Blick starrte er dieser Frau entgegen und wollte bereits losstürmen, doch etwas hielt ihn auf. Ein stummer Befehl in ihm, seine Aufgabe war doch eine ganz andere. Grenadine oder der Kaiser? Seine Berufung oder seine Liebe? Fergeons Atmung beschleunigte dich, als er den Satz des Kaiser erneut hörte. Doch Grenadine schnaubte verächtlich.
„Glaubt Ihr eigentlich selbst, was Ihr da sagt?“, herrschte sie den mächtigen Mann an und stand auf. Ihr schien es egal, dass man sie anstarrte wie ein Stück Fleisch, doch in Fergeon wirbelte dieses Feuer, ihr Feuer, ihn auf und verbrannte ihn.
„Weib, berühre diesen Stein oder sterbe einen grausamen Tod.“ Eine wegwischende Handbewegung seitens des Kaisers macht deutlich, wie wenig er sich für ihren Widerstand interessierte. Grenadine berührte den Stein nicht, sondern tat etwas anderes. Sie zeigte auf Fergeon und zog ihn gleichzeitig damit vollkommen aus.
„Nur mit ihm!“
Der Kaiser wand sich ab, suchte nach dem Mann und zuckte mit den Schultern. Ein Toter mehr oder weniger würde ihm ja nicht weh tun.
Also schleppte man ihn vor den Kaiser, nahm ihn seine Ausrüstung weg und überließ es ihm, wie er seinen Tod finden würde. Oder zu Zögern nahm Fergeon Grenadine zur Hand und küsste sie. Keine Worte, nur ein stummer Austausch, während die festgeschlungenen Hände ihre Liebe darstellten.
Es dauerte eine Sekunde, bis Fergeon die Barriere durchbrach und Grenadine mit sich zog.
Und die Finger beider trafen auf den Granit.