Ich habe eine Kurzgeschichte von Lukida Atlas gelesen und das hat mich bewegt, ein wenig dazu zu schreiben.
(https://belletristica.com/en/books/24371-in-der-welt-der-fantasie/chapter/186248-auf-dem-meer)
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Sie blickte hinab auf diese Holzstücke, die ziellos auf der Oberfläche schwammen wie Leichen. Die Kapitänin hob die Hand und formte sich Hand so, dass sich Ringfinger und Daumen an der Fingerkuppe berührten. Das Schnipsen hallte durch diese Todesstille.
Die Holzsplitter rührten sich im Wasser, als würden sie sich selbstständig machen. Sie bewegten sich, wurden durch unsichtbare Hände aus dem Wasser gehoben, bis sie in der Luft schwebten und dem Willen des Mädchens folgten. Die erhobene Linke bewegte sich in Richtung Deck, das vor ihr genügend Platz bot, um die Reste des Wracks zu bergen. Bei der ersten Fuhre waren es nur Algen, vermodertes Holz und Dreck. Mit einer Geduld, die ihr Jahrhundertelanges Leben sie gelehrt hatte, formte sich die Rechte zu einer Faust, bis der Schlamm und Wasserpflanzen von den von Menschen gemachten Gegenständen getrennt wurde. Immer musste sie lachen, wenn der Dreck im Wasser aufklatschte und im Meerwasser versank.
Und dennoch liebte sie das Geräusch, das der selige Frieden der Toten erzeugte. Es war eines der wenigen Dinge, die sie erfreute. In ihrer Einsamkeit als Wesen, das sich die Menschen als Gottheit vorstellten. Als ein Mythos oder eine Legende. Früher, als sich die Menschheit dazu entschied, die Meere zu erkunden und Schlachten zu schlagen, hatte man sie ab und zu gesehen. Sie und ihr berüchtigtes Schiff, das größer war als jedes der damaligen aus Menschenhand gemachten Nussschalen.
Der Wind pfiff um ihre kleinen spitzen Ohren, die mondweisen Haare flatterten um ihren schlanken Leib. Sie lockten sich um ihr rundes Gesicht, während sie konzentriert Fuhre um Fuhre auf ihr Schiff lud. Es dauerte eine Weile, doch es strengte die Kapitänin nicht an. Interessiert versuchte sie zu erraten, was dieses Frack wohl an Schätzen beherbergte, bevor es vergessen wurde. Vielleicht ein paar Skelette von versunkenen Seeräubern oder vielleicht doch eine Truhe voller Gold? Manchmal schlichen sich auch Karten oder Kleider hinein, die von der Zeit nicht berührt worden waren. Und manchmal, wirklich selten, hatte sie eines dieser Gegenstände behalten. Um sich daran zu erinnern, wie die Menschheit sich verändert hatte, wie sie lebten und wie sie starben.
Als die Kapitänin die letzte Ladung auf ihrem Schiff verbracht hatte, betrachtete sie den Fang und sortieren mit ihren bloßen Gedanken die Gegenstände. Sie folgen ihren Willen, wurden zusammengesetzt und in verschiedene Ecken geschoben. Während sie ihrer Aufgabe nachging, trieben die Gedanken wie das Treibgut vor ihr in ihrem Verstand. Wie viele Abenteuer diese Besatzung wohl in diesem Kahn gehabt hatte? War es ihre Hoffnung, die Freiheit zu spüren oder doch das Verlangen, größere Mächte besiegen zu können und die Meere zu beherrschen, die sie hinaus aufs Meer getrieben hatten? Oder waren sie einfache Seemänner gewesen, die eine neue Heimat gesucht hatten? Wie einfache Fischer sahen sie nicht aus, als sie die Waffen von den Skeletten trennte. Schwerter und Kanonen waren ihr zuwider. Diese grobe Gewalt zeigte deutlich, wie erfolglos man das Meer für sich beanspruchen konnte. Die Menschen konnten weder fliegen noch schwimmen und trotzdem versuchten sie, das Meer mit festen Gegenständen zu durchbrechen. Außer, dass der Tod auf einen wartete, war dieser Kampf von Anfang an erfolglos gewesen.
Während sie die Toten vor sich zu Boden legte und sich vornahm, diese später durch eine Seebestattung den letzten Frieden bringen zu wollen, trat die Kapitänin zurück. Sie betrachtete die Leichen und erkannte vieles darin. Und so umrahmten ihre letzten Hoffnungen und Wünsche diese Knochen wie Kleider ihre verendeten Leiber. Sie sah, wie sehr das Grinsen eines Skelettes sie zu verhöhnen schien und die leeren Augen sie anstarrten, als wäre sie die Verfluchte auf diesem Kahn und nicht er als eigentlicher Toter. Die kleinen Knochen neben ihm sagten ihr, wie sehr das Kind gelitten haben musste und wie sehr dieser Wunsch nach Freiheit und Sehnsucht nach Frieden in diesen Knochen noch stecken musste. Stimmen der Toten legten sich über ihr Gemüt, während sie mit einer Handbewegung diese Knochengestelle, darunter mehrere Kinder, in die Höhe trug. Leinentücher schwebten herbei und verdeckten die Toten. Um die Gegenstände würde sie sich später kümmern.
„Möget ihr euren Frieden finden“, hauchte sie, während sie mit Tüchern umwickelten wurden. „Ich werde eure Hoffnungen und Wünsche in mir tragen, sie in die Welt hinaustragen, bis sie erhört werden.“ Und noch während der letzte Kopf verdeckt wurde, erkannte die Kapitänin ein leises Lächeln auf dem Kopf des Kindes. Als würde es Danke sagen, sank ihre Hand. Die Toten wurde zu Wasser gelassen, bis sie knapp über der Oberfläche schwebten. Sie lächelte.
„Ruhet in Frieden.“ Ein weiteres Schnipsen, bis der erste Leib Feuer fing. Das beruhigende Knistern vor ihr berauschte ihre Sinne, bis alle Skelette in diesem viel zu betäubendem Licht aus Frieden und Freude versunken waren. Nicht ein Fünkchen der Menschen verblieb, nicht ein Stofffetzen der Tücher blieb übrig, nicht ein Knochen war mehr zu sehen. Nur der leise Funkenflug, der sich einen Weg durch den Wind hinaus in den freien Himmel suchte, beflügelten ihre Sinne, bis kein Leuchten mehr zu sehen war. Nun endlich drehte sie sich um, rief einen Wind herbei, bis sich das Schiff langsam mit einem Knattern in Bewegung setzte. Sie lächelte, als sie den strahlenden Mond vor sich betrachtete. Der Wind berichtete ihr, wo sie ihr nächstes Ziel finden würde.
Und als würde der Mond ihr zusehen, wie sie ihre Aufgabe wie eine Hüterin und Bewahrerin ausführte, lächelte die Kapitänin in diese Stille, die ihr ihr liebstes Geräusch war.
Sie war eine Hüterin der Träume und Wünsche. Und eine Bewahrerin des Friedens der Toten.