Gelangweilt schob ich die Bilder beiseite, die sich auf meinem Display auftaten. Das neue Handy hatte alle Bilder vom Alten übernommen. Stöhnend lehnte ich mit an die nicht mehr so gemütliche Couchwand und bewegte meinen Finger von einem Bild zum anderen. Wer hätte denn gedacht, dass ich so viel Shit auf meinem alten Smartphone hatte? Bilder von Tieren, Familie, Bekannten und Freunden, von witzigen und von traurigen, von komischen und absolut peinlichen Momenten. Doch trotzdem nahm ich mir nicht die Zeit, sah mir keine zwei Sekunden lang eines an oder überlegte, wann und warum diese denn geschossen wurden. Ich markierte die meisten und drückte auf den Mülleimer. Mit müden Augen verfolgte ich den Ladebalken, dann ploppte ein neues Fenster auf und ich bestätigte eine Frage. Dann suchte ich weiter, als weitere Fotos der Reihe nach auftauchten und ich das Datum anschaute. Vorletztes Jahr.
„Oh Himmel und ich bin nicht mal bei der Mitte!“, fluchte ich selbst über meine scheinbar unbelehrbare Fähigkeit, unsinnige Daten aufzubewahren und damit meinen Speicher des neuen Handys vollzuhauen. Obwohl das neue Objekt lediglich das „alte“ Handy meines Vaters war, war ich doch froh gewesen. Er brauchte es nicht mehr und hätte es sonst an irgendjemanden für wenig Geld verscherbelt. Wäre ich nicht zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen, hätte ich es gar nicht bekommen.
Im Hintergrund vernahm ich ein Läuten der Türglocke, doch bevor ich aufstehen konnte, hörte ich bereits meine Mutter an der Tür. Sie redete wohl mit jemanden. Stumpfe Geräusche traten aus der geschlossenen Zimmertür und ich stöhnte wieder auf. Ob vor Erleichterung, mich nicht bewegen zu müssen oder vor Verzweiflung, wenigstens in diesen öden Tagen ein wenig Abwechslung zu haben, und sei es nur das kurze Hallo und Tschüss mit dem Postboden oder des alten Nachbarn, der sich bei jedem Sehen auch nach meinem Meerschweinchen erkundete, wusste ich nicht. Nebenbei sei gesagt, dass das Kleine schon vor Jahren gestorben war.
Also tat ich das Einzige, was ich nützlicher Weise tun konnte. Ich mistete aus. Meine Kleider, die ich als Vierundzwanzigjährige nicht mehr tragen konnte oder sollte, alte CDs und Bücher, Schränke oder anderen Krimskrams. Schließich zog es mich zu den alten Dateien auf dem PC und Handy, die ich schließlich in Ordern der Jahre nach auf der Festplatte für die Zukunft bewahren wollte. Löschen wollte ich einfach irgendwelche spontanen geschossenen Fotos, die nicht mehr sehenswert waren. So fegte also mein Finger über die Bilder von 2019, die ich manchmal gemacht habe oder mir zugesendet wurden. Und plötzlich blieb ich einfach bei einem stehen, das ich länger als zwei Sekunden fixierte.
Ein trauriges Gefühl machte sich in mir breit und ich wurde wehmütig. Mit tiefen Gedanken, die sich ganz von selbst auftaten, blickte ich in jedes Gesicht, das ich sehen konnte.
Während sich im Hintergrund die Berge auftaten und das Grün des Frühlings sich deutlich in den Vordergrund stellte, so waren es doch vier Personen, denen ich meine Aufmerksamkeit widmete. Ein junger Mann mit ruhigem Lächeln, ein freches Grinsen einer Gleichaltrigen, daneben sitzend ich mit vollkommen schrägen Lachen und in der Mitte vor uns ein Ende Zwanziger, dessen Alter er sich niemals eingestehen würde. Ich musste unweigerlich lächeln, als ich mich an diesen Moment erinnerte. Flatternde Gefühle machten sich in mir breit und selbst die Trägheit und Sorglosigkeit von vor ein paar Minuten schien wie weggefegt.
Nach meiner Ausbildung und auch zuvor in der Schulzeit hatte ich niemals einen Freudenkreis. Keinen festen, außer Hier und Da ein paar nette Bekanntschaften. Wer würde sich schon für eine schräge Streberin interessieren, die gerne Animes schaut und alles so korrekt nahm, doch dessen große Klappe eigentlich viele verschreckte. Eine komische Kombination, dachte ich immer und so schlug ich mich damals gerne allein durch. Doch irgendwie hatten sich diese Vier, die ich auf dem Bild sehen konnte, gefunden. Wie lange wir uns abends betrunken hatten, obwohl keiner von uns etwas vertrug. Wie man sich die Sorgen und Nöte erzählte, die kein anderer außerhalb jemals verstanden hatte. Diese irrsinnig witzigen Ideen, die mich so sehr zum Lachen gebracht hatten, dass mein Magen deswegen wehgetan hatte. Viele begannen immer mit der Aussage: „Ich habe da so eine doofe Idee.“ Selbstverständlich wurde diese immer ernstgenommen und direkt umgesetzt. Und sei es einfach, jemanden nachts um zwei aus dem Bett zu klingeln, damit man auf einem Berg Sternschnuppen zählen konnte.
Und als man sich auf der Arbeit spontan zu einer Wanderung trotz Regentag entschlossen hatte, obwohl eigentlich keiner so wirklich weg Lust hatte, ist man natürlich zu viert aufgebrochen. Es war wirklich sehr schön gewesen, denn die Sonne kam trotz der ganzen Schlechtwetterberichte auf. Und am Ziel, einer alten Ruine, angekommen war dieses Bild, das mich hat stocken lassen, aufgenommen worden.
Doch ein erdrückendes Bauchgefühl kam ebenfalls hoch. Wo waren sie nur, diese Sorglosigkeit und Glückseligkeit, die ich in diesen Momenten hatte? Als die Welt mir zu gehören schien und ich sie dennoch teilen wollte. Seit diesem Lockdown war jeder irgendwie seinen eigenen Weg gegangen und jeder hat sich ein wenig selbst durchgeschlagen. Die Sorgen und der Kummer wurden größer, keiner redete mehr darüber, man hatte sich auseinandergelebt. Wird es nach diesem Virus denn wieder so einfach und bequem, so vertraulich und leicht? So ehrlich und warmherzig?
Irgendwas sagte in mir: Nein. Denn dann wirst du nicht mehr dort sein, wo die anderen sind. Denn dann werde ich meinen eigenen Weg weitergehen, an dessen Anfang ich eigentlich noch stehe. Dann wird es diese Truppe nicht mehr in dieser Konstellation geben, wie sie 2019 existiert hat. Jeder stand zu Anfang an dem gleichen Punkt, doch diese verschiedenen Möglichkeiten, seinen eigenen Zielen näherzukommen, waren schier endlos. Und so wie sich endlose Wege bei jedem auftun, so würde man sich in diesem Wirrwarr schnell verlieren. Das war klar.
Mein Grinsen verschwand und ich wollte nicht weiter darüber nachdenken. Also schob ich meinen Finger weiter links und sah wieder eines, das dem vorherigen ähnelte. Ich brachte es nicht über mich, diese zu löschen. Das drückende Gefühl, ein Drängen, wurde langsam größer. Ich überlegte fieberhaft, dachte nach und kam zu einem Entschluss.
Schließlich stand ich auf, tippte die Nummer ein und wartete auf das Freizeichen.
„Hallo?“, hörte ich eine Stimme in der anderen Leitung und unweigerlich musste ich grinsen.
„Wie schön, von dir zu hören“, sagte ich und gab mich zu erkennen. Augenblicklich wurde es still, als ich eine Stimme im Hintergrund hörte.
„Störe ich?“, wollte ich wissen, doch es wurde schnell verneint.
„Was gibt´s?“, fragte er wieder und schien genervt. Auch wenn es ungelegen kam, so würde ich kein Nein akzeptieren. Ich grinste breiter.
„Ich habe da so eine doofe Idee.“