An der Stelle vielen Dank an Mark Z., der so nett war, die Geschichte zu vertonen. Solltet ihr also keine Lust zu lesen haben, hört gerne seiner Stimme zu und lehnt euch zurück :)
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Nervös spielte Greta mit einem Stoffstück in ihrer Hand. Wie sollte sie denn das alles schaffen? Wie konnte es nur soweit kommen? Ihr tropften Schweißperlen von der Stirn und sie hielt den Atem an. Weil keiner sprach und sie selbst keinen Weg mehr weiterwusste, sollte grade sie doch irgendeine Idee haben. Sie, die einzige Akademikerin in der Familie. Greta betrachtete ihren Vater, der die Pfeife rauchend in den Kamin starrte. Er hatte die Nachricht überbracht, wohl wissend, was er damit ausgelöst haben musste. Ihre langen brauen Haare waren zu einer Flechtfrisur zusammengebunden und an die Spitze, aus welcher die ungleich geschnittenen Haare herauslugten, wurde mit den Fingerspitzen gerade gezogen. Die natürlichen Wellen schlugen doch sofort wieder in ihre ursprüngliche Form zurück. Gretas Augen huschten durch das kleine Zimmer, dessen braune Wände mit manchen Tierköpfen verziert waren. Die Flinte, die ihrem Vater gehörte, stand an der Wand gelehnt neben dem offenen Kamin. Das Feuer spendete zwar Wärme, doch nach dieser Nachricht war ihr jegliche aus den Gliedern gewichen.
„Bist du dir sicher?“, fragte sie nervös. „Bist du sicher, dass Mic…“ sie konnte diese Worte unmöglich aussprechen. Ihr Vater nahm das Ende der Pfeife aus dem Mund und stieß den Rauch aus. Müde schaute er seinem einzig verbliebenen Kind an. Seine einzig verbliebene Tochter, das einzigen Kind, dass die Familie Owen noch hatte.
„Ich kann ja verstehen, dass du nicht erfreut bist, sowas zu hören, aber es ist wahr.“ sagte er nickend und widmete sich wieder der Hitze des Feuers. Irgendwo im Zimmer hörte Greta eine Uhr Mitternacht läuten. Es konnte doch nicht wahr sein. Gretas Finger umschlossen sich um den Stoff des dünnen Kleids, das eigentlich ihr Nachthemd sein sollte. Doch es fühlte sich schwerer an als sonst. Ihre Schultern hingen herunter, als hätte sie jetzt erst die schwere Last bemerkt, die auf ihnen lasten.
„Ich verstehe, aber…“, sie setzte zum Protest an, doch sah den ernüchternden Blick ihrer Mutter. Das wilde Haar war nicht wie gewohnt zu einem sauberen Zopf zusammengebunden, sondern standen in alle Richtungen umher. Die Locken umkreisten das gerötete Gesicht, die rot geweinten Augen und die Augenringe sagten alles Weitere.
„Mic ist tot.“, sagte sie schwach und lehnte gegen den Holztisch. Den Holztisch, den Michael gemacht hatte. Als Tischlerlehrling hatte er doch grade erst sein erstes Lehrjahr hinter sich und musste dann gleich in den Krieg ziehen. Das war einfach nicht fair.
Greta betrachtete den Brief, den sie bereits zehn Mal gelesen hatte. Und dennoch brachte diese Worte sie zum Weinen.
Michael Owen, geboren 14. Juni 1898 in Dierfeld, …
Mehr konnte Greta nicht lesen, denn vor ihren Augen verschwammen die schwarzen Lettern auf diesem gelblichen Papier. Gefallen. In der Schlacht gefallen. Leiche unauffindbar.
Ihre Brüder Alexander und Ernest waren ebenfalls gefallen. Im Krieg gegen die Feinde des deutschen Staates. Doch ihre Leichen konnten geborgen werden und wurden zurück in ihre Heimat gebracht. Greta war in dieser Zeit auf einer Universität in Kiel und wollte dort als Ärztin tätig werden. Ihre Eltern hatten schwer dafür geschuftet, ihr dieses Studium zu ermöglichen. Als Jäger und Näherin verdienten sie nicht viel, machten doch den Wunsch ihrer Tochter möglich.
Und jetzt waren von vier Kinder nur noch eines da. Die anderen drei lagen unter der Erde oder waren unauffindbar. Greta war sich nicht mal sicher, ob diese Leichen wirklich ihre Brüder waren, die auf dem Friedhof lagen.
Ein letztes Mal las sie die Worte, dachte an den jüngsten der Familie Owen und sah auf. Ihr Vater konzentrierte sich auf die Flammen und ihre Mutter schluchzte. Nun musste sich Greta um ihre Familie kümmern, denn keiner war mehr da, um die restlichen Drei zu versorgen.
Ihre Mutter nahm den Brief mit ihren drei Fingern entgegen. Ein Arbeitsunfall. Greta sah zu, die sie den Brief zitternd auf den Tisch legte.
Der Vater rollte hervor und griff nach der Pfeife. Sein Blick verhieß Trauer und Entschlossenheit. Er wollte als Oberhaupt der Familie die Würde wahren, doch diese eingefallenen Augen sagten mehr als deutlich, dass er seinen Mut und die Hoffnung verloren hatte. Greta sah zu, wie er mit langsamen Bewegungen den selbstgebastelten Rollstuhl an den Tisch rollte und nach dem Tabak griff.
Greta musste ihr Studium abbrechen und war nun hier, zu Hause.
„In diesem Fall,“ sagte sie entschlossen und stand auf. Sie wischte die feuchten Tränen aus dem Gesicht. „In diesem Fall, müssen wir trotzdem ein Grab für ihn errichten. Ich hole schon mal die Schaufel und werde morgen ein Loch graben. Und dann werde ich mir gleich eine Arbeit suchen!“, ihre Stimme brach bei diesen Worten, doch je mehr sie sprach, desto mehr fand sie sich selbst.
Die Hoffnung wird wiederkommen. Auch wenn es bald eine weitere Tote geben wird, hatte sie wenigstens einen Funken Hoffnung, dass sie ihren Eltern ein wenig Würde und Liebe schenken konnte. In Gretas letzten Lebensmonaten, bevor sie die unheilbare Krankheit zu ihren Brüdern schicken würde. Doch ihre Eltern hatten keine Ahnung davon und ahnten nicht, was Greta bevorstand.
Ihre Mutter musste aufgrund Gretas Aussage schmunzeln, wie auch ihr Vater vor Lachen husten musste. „Ganz bestimmt, Kleines!“ Sie kam auf Greta zu und hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn. „Wir werden das schaffen, als Familie. Ganz bestimmt.“
Und Greta fand ihren Mut wieder, ihr Vertrauen in sich selbst und empfand in dieser schwarzen Nacht auch ein wenig Ruhe. In der Hoffnung so viel Ruhe wie auch ihre Brüder, die im Himmel auf sie warteten.