„Sag, wie sieht es nun aus?“ Arteus saß an seinem großen Schreibtisch, die Hände gefaltet, den Kopf auf die gefalteten Hände gestützt
„Es ist rot geworden, Meister“, berichtete sein Schüler.
Der blinde Magier seufzte und rieb sich mit den Zeigefingern an seinen Schläfen, was dafür sorgte, dass das schwarze Tuch, welches über seinen Augen lag, etwas verrutschte. Schon wieder war das Experiment ein Fehlschlag. Doch er würde nicht aufgeben. Er wusste, dass ein Erfolg von unschätzbarem Wert für das Königreich war.
„Was soll ich damit machen, Meister?“
„Säubere die Werkzeuge und beginne noch einmal. Dieses Mal nimm mehr Feuerkraut und weniger von der iridianischen Wurzel. Das sollte das Verhältnis zwischen -“ Er stockte kurz, als er spürte, wie sich eine fremde Präsenz dem Raum näherte, und gab seinem Schüler ein Zeichen. „Wir bekommen Besuch.“
Der Junge wusste sofort was zu tun war. Schnell ließ er den Aufbau hinter einem Vorhang verschwinden und stellte sich rechts hinter seinen Meister.
In diesem Moment klopfte es an der Tür.
„Herein!“
Die Tür wurde von einem Botenjungen geöffnet. „Verzeiht bitte die Störung, Meister Arteus.“ Der Magier spürte an der Präsenz des Jungen, dass er sich verbeugte. „Ich habe eine Nachricht von General Tubaro. Er verlangt, Euch im Kerker zu sehen.“
„Er verlangt?“, fragte Arteus und zog eine Augenbraue fragend in die Höhe.
Die Nervosität des Boten war regelrecht greifbar. „Das waren seine genauen Worte“, antwortete er mit leicht zittriger Stimme.
„Richte ihm aus, dass ich auf dem Weg bin.“
„Sehr wohl.“ Erneut verbeugte sich der Bote, dann verschließ er den Raum und schloss die Tür hinter sich. Arteus konnte Erleichterung in der Aura des Jungen sehen.
„Wieder ein Verhör?“, fragte der Schüler neugierig.
„Wir werden sehen. Aber dieses Mal möchte ich, dass du hier bleibst und an dem Experiment weiterarbeitest. Das duldet keinen Aufschub. Die Erkenntnisse, die wir daraus ziehen können, sind wertvoll.“
„Ich verstehe, Meister.“ Der Junge macht sich wieder an sein Werk.
Arteus konnte ein wenig Enttäuschung an seinem Schüler spüren. „Das nächste Mal nehme ich dich wieder mit.“ Dann stand auf, warf sich seine schwarze Robe über und machte sich auf den Weg zum General.
„General Tubaro“, grüßte Arteus den General, der bereits im Gang zum Kerker auf ihn wartete. „Ihr wisst sicher, dass ich mich nicht gerne herumkommandieren lasse, nicht wahr?“
Der General war für den Magier unverkennbar. Wenn Sturheit und Dickköpfigkeit eine eigene Farbe gehabt hätten, so hätte dieser Mann sie für sich beschlagnahmt.
„Es ging nicht anders, Magus Arteus“, antwortete der erfahrene Kämpfer mit fester Stimme und setzte sich mit schnellem Schritt in Bewegung. „Wir haben eine Angelegenheit von höchster Dringlichkeit. Auf den König wurde während seiner Reise aus Vendenburg zurück in die Heimat ein Attentat verübt. Wir haben einen der Angreifer gefangen nehmen können, doch er weigert sich, zu gestehen.“
„Ich verstehe.“ Arteus nickte und blieb vor einer der Türen im Kerker stehen. „Ich nehme an, es ist diese Tür hier?“ Er wusste, dass er sich nicht nach der Gesundheit des Königs erkundigen brauchte. Auch wenn der General stur wie ein Esel sein konnte, so war er mindestens genau so loyal. Wäre dem König etwas zugestoßen, hätte er mehr Sorge in der Aura des Mannes spüren können.
„Ja. Wir haben ihn bereits gefoltert, aber er scheint auf nichts anzusprechen. Er bleibt bei seiner Aussage, dass er unschuldig sei.“
Arteus konnte die Schmerzen des Mannes schon vor der Tür spüren. Die Soldaten mussten sich alle Mühe gegeben haben, den Gefangenen zum Sprechen zu bringen. „Ich werde das erledigen. Ich möchte, dass Ihr dafür sorgt, dass niemand mich stört.“
Ohne auf eine Antwort zu warten öffnete Arteus die Tür und betrat die Zelle.
„Noch jemand?“, rief der Gefangene spöttisch. „Ich sagte doch schon, dass ich nichts getan habe! Ich bin unschuldig!“
Arteus hörte die Ketten klimpern, an denen der Gefangene gefesselt auf einer Holzplatte lag. Die Platte war aufgestellt, sodass der Gefangene während der Folter stehen musste. Die Ketten waren kurz genug um ein Zusammenbrechen des Gefolterten zu verhindern und diesen in einer aufrechten Position zu halten.
„Das sagen viele“, antwortete Arteus ruhig und streifte seine Kapuze vom Kopf.
„Jetzt schicken sie schon einen Blinden? Lasst mich einfach frei! Ich kann Euch nichts sagen, verdammt! Ich habe nichts getan!“
„Und ich bin hier, um herauszufinden, ob das stimmt. Mein Name ist Arteus, ich bin der oberste Magier des Königs.“
Arteus konnte den sofortigen Wechsel der Aura des Mannes beobachten. Angst machte sich ihn ihm breit.
„Ich fürchte, es wird Unangenehm für Euch werden. Doch wenn Ihr die Wahrheit sprecht und tatsächlich unschuldig seid, werde ich mich persönlich um die Versorgung Eurer Verletzungen kümmern“, fuhr Arteus fort. „Und gebt Euch keine Mühe zu lügen. Es würde Euch nichts bringen.“
„N-Nein! Bleibt weg von mir!“, rief der Mann und warf sich verzweifelt in seine Ketten, während der Magier sich ihm näherte.
Arteus nahm das Tuch von seinen Augen, packte den Mann an den Schläfen und ließ ihn direkt in direkt in seine geblendeten, trüben Augen starren. Die Fingerspitzen des Magiers begannen dabei blau zu leuchten.
„Und jetzt zeig mir die Wahrheit“, flüsterte Arteus und ließ magische Fäden in den Kopf des Gefangenen eindringen.
Der Mann bäumte sich auf, schrie und fluchte, als die Fäden sich in seinem Gehirn festsetzten, doch er konnte nichts gegen den Einfluss des Magiers unternehmen.
Arteu‘s Welt verkleinerte sich auf das Zentrum der Gedanken des Gefangenen. Er ließ seine Magie und einen Teil seiner Seele in den Geist des Mannes eindringen. Die Zeit schien still zu stehen und nur weiterzugehen, wenn der Magier es ihr befahl. Innerhalb von Sekunden durchsuchte er die Erinnerungen des Mannes, lernte ihn kennen, als wären sie zusammen aufgewachsen und fand schließlich, wonach er gesucht hatte. Langsam löste er sich aus dem Körper des Mannes. „Es ist alles gut, Quentin“, sprach er leise.
„Ihr kennt meinen Namen?“, stammelte der Mann. Er war noch benommen von dem, was gerade mit ihm geschehen war.
„Ich weiß alles von dir“, antwortete Arteus ruhig. „Und ich weiß, dass du die Wahrheit gesagt hast.“
„Dann lasst Ihr mich frei?“, fragte Quentin flehend, Tränen flossen über seine Wangen.
„Ja. Und wie versprochen werde ich mich um deine Wunden kümmern, sobald ich wieder zurück bin.“
Arteus trat ein Stück von dem schluchzenden Gefangenen weg, band sich das schwarze Tuch vor seine Augen und klopfte an die Kerkertür. Quentin tat ihm leid, ebenso wie das Schicksal, welches er erleiden musste. Das, was er in den Erinnerungen des Mannes gefunden hatte, hatte den Magier jedoch zutiefst erschüttert. Er wusste nun, weshalb Quentin sich an nichts erinnerte und dachte, er sei unschuldig. Und er wusste, dass etwas Gefährliches auf dem Weg in das Königreich war. Und wenn er verhindern wollte, dass das Böse sich unter ihnen ausbreitete, musste er mit dem König sprechen. Bevor es vielleicht endgültig zu spät war.