Verunsichert schaute Vanessa sich in dem großen, dunklen Raum um. Zumindest versuchte sie es, doch die Finsternis, die sie umgab, verhinderte, dass sie Details erkennen konnte. Sie wusste nicht, wo sie war. Der fremde Mann hatte ihr eine Art Sack über den Kopf gezogen und erklärt, es wäre besser, wenn sie nur wusste, was wichtig war.
Erst hatte sie nicht verstanden, was er damit gemeint hatte, doch als ihr Blick sich auf den Revolver in ihrer rechten Hand richtete, ahnte sie, was hier passieren sollte.
Sie hob den Kopf und schaute Daniel in die Augen. Ihr Exmann saß gefesselt und wie ein Tier winselnd auf einem Stuhl und sah sie mit flehendem Blick an. Tränen rannen über sein Gesicht und das Stück Stoff, welches in seinem Mund steckte und so verhinderte, dass er sprechen konnte. Sein blondes Haar war zerzaust, sein Pullover und seine Jeans an einigen Stellen gerissen. Sie konnte auch blaue Flecken auf seiner Haut unter den Rissen im Stoff erkennen. Vanessa wusste nicht, was ihm zugestoßen war, aber er tat ihr nicht Leid. Er hatte ihr viel Schlimmeres angetan.
Hinter ihrem Ex stand der fremde Mann, der sie hierher gebracht hatte. Sie kannte ihn erst ein paar Stunden, doch seit er an ihrer Türschwelle aufgetaucht war, hatte sie das Gefühl, ihm voll und ganz vertrauen zu können. Dabei rief jede Zelle in ihrem Körper, dass das blanker Wahnsinn sei. Trotzdem hatte sie sich von ihm zu diesem Ort führen lassen und stand jetzt, mit einer Waffe in der Hand, vor ihrem Ex.
Vanessa richtete den Blick fest auf den Fremden, dessen schwarze Haare mit Gel nach hinten glattgestrichen auf dem Kopf lagen. Seine Augen leuchteten im schwachen Licht bernsteinfarben, sein Mund war zu einem spitzbübischen Lächeln verzogen.
Eine Kerze stand auf einer quadratischen Holzkiste und beleuchtet nur einen kleinen Umkreis. Alles hinter dem Lichtschein verschwand in völliger Dunkelheit. Vanessa fühlte sich, als bestünde ihre Welt nur noch aus dem, was der Schein der Kerze erfassen konnte. Den fremden Mann, Ihren schluchzenden Ex und sich selbst, mit dem Revolver in der zitternden Hand.
„Ist das nicht wunderbar?“, fragte der Fremde und klatschte begeistert die Hände zusammen, bevor er sie auf Daniels Schultern legte und Vanessa direkt anschaute. „Da ist er, dein edler Göttergatte! Naja, Ex-Göttergatte trifft es wohl besser, oder?“
Daniel sträubte sich, wand sich unter den Händen des Mannes versuchte vergeblich, sich zu befreien. Dabei grunzte und knurrte er wild.
„Was für ein Temperament! War er während eurer Ehe auch so?“, fragte der Fremde amüsiert.
Doch Vanessa war nicht zum Scherzen zumute. „Was soll das ganze hier?“, verlangte sie stattdessen zu wissen und versuchte, ihre Stimme unter Kontrolle zu halten. Es war ihr zu viel, sich mit ihrem Ex in einem Raum aufzuhalten.
Der Fremde schaute sie überrascht an. „Was das hier soll? Na was wohl? Du hast es dir doch so gewünscht, oder nicht? Vor zwei Wochen, in deiner Selbsthilfegruppe. Hast du das schon vergessen?“
„Sie waren da?“ Vanessa konnte die Überraschung in ihrer Stimme nicht verbergen. Fieberhaft versuchte sie sich an die Sitzung zu erinnern, ob sie den Mann dort gesehen hatte, aber sie konnte es nicht.
Dessen Grinsen wurde breiter, seine sanfte Stimme schien direkt mit ihrer Seele zu sprechen. „Glauben Sie mir, ich bin überall dort, wo ich gebraucht werde.“
Daniel wandte sich noch immer und versuchte verzweifelt, etwas zu sagen. Doch der Stoff in seinem Mund verhinderte, dass etwas anderes als ein dumpfes Grunzen daraus wurde. Sein Blick war dabei fest auf Vanessa gerichtet, als wollte er sie vor etwas warnen.
„Wer sind Sie?“, fragte sie den Fremden schließlich.
Doch dieser lächelte nur lieblich und sprach mit dieser betörenden Stimme weiter, welche die junge Frau verunsicherte und doch gleichzeitig Vertrauen hervorrief. „Hier geht es doch nicht um mich. Hier geht es um Sie. Sie und den Mann, der nicht nur Ihr Herz gebrochen, sondern auch Ihr Leben zerstört hat. Nicht wahr?“
Vanessa nickte und starrte auf Daniel, der daraufhin versuchte, zurückzuweichen. Vielleicht hatte er den Hass in ihren Augen erkannt?
Daniel und Vanessa hatten sich vor vier Jahren auf einer Geburtstagsfeier eines Freundes kennengelernt. Von da an war alles so schnell gegangen. Sie hatten sich oft getroffen und viel Zeit miteinander verbracht. Vanessa fühlte sich damals wie auf Wolke Sieben. Jeden Tag hatte sie an ihn gedacht und sofort eine zehrende Sehnsucht verspürt, wenn sie sich aufgrund ihrer Arbeit einmal nicht sehen konnten.
Als Daniel ein Jahr nach ihrem Kennenlernen um ihre Hand angehalten hatte, brauchte sie gar nicht lange zu überlegen, Natürlich stimmte sie sofort zu, auch, wenn ihre Eltern etwas gegen ihre Vermählung hatten.
Vanessa kam aus einem wohlhabenden Haus, während Daniel aus einer Arbeiterfamilie stammte, aber ihr war das egal gewesen. Sie liebte ihn und er liebte sie. Zweifel daran hatte sie nie verspürt.
Doch vor zwei Monaten hatte sie dann herausgefunden, dass er sie von Anfang an nur belogen und ausgenutzt hatte. Daniel hatte sie gleich mit mehreren Frauen betrogen und sich nur durch eine SMS verraten, die er an die falsche Nummer geschickt hatte. Vanessas Nummer.
An diesem Tag war etwas in ihr zerbrochen. Natürlich hatte sie umgehend die Scheidung eingereicht und war sofort zu ihren Eltern zurückgezogen, doch sie gab sich selbst die Schuld an allem, was passiert war. Ihr Selbstvertrauen war dahin, stattdessen hatten sich Angst, Zorn und Unsicherheit in ihr breitgemacht. Jeden Tag fragte sie sich, was sie falsch gemacht hatte und scheute den Blick in den Spiegel. Sie hatte sich komplett aus dem Leben zurückgezogen und in ihrem Zimmer verbarrikadiert, wollte niemanden sehen und sprechen. Auch mit dem Essen hatte sie aufgehört und wäre vielleicht schon gestorben, wenn ihre Eltern sie nicht dazu gezwungen und schließlich zu dieser Selbsthilfegruppe geschickt hätten.
Dort hatte sie sich alles von der zersplitterten Seele geredet und hatte doch kein Gefühl von Befreiung erfahren. Am Ende der letzten Sitzung hatte sie schließlich gesagt, dass sie nur dann wieder frei leben könnte, wenn Daniel zur Hölle fahren würde.
Aber hatte sie das wirklich so gemeint? Unsicher schaute Vanessa erneut auf den Revolver in ihrer Hand. War das vielleicht ihr Ticket in die ersehnte Freiheit? Konnte sie damit endlich die Ketten sprengen, die sie gefangen hielten? Doch wenn dem so war, weshalb zitterte sie dann? Warum war sie sich so unsicher? Der Fremde hatte ihr einen Schlüssel in die Hand gegeben, sie musste nur noch die Tür öffnen. Und trotzdem stand sie, zitternd und verunsichert, vor ihrem verhassten Ex und wusste weder ein noch aus.
Sie hatte in ihrem ganzen Leben noch keine Gewalt angewendet. Jeden Konflikt hatte sie entweder ausgesessen oder ihn mit diplomatischen Mitteln gelöst. Doch das hier war ein Schritt in eine unbekannte Richtung. Was würde mit ihr passieren, wenn sie Daniel wirklich in die Hölle schickte? Dass er nach all seinen Taten dort landen würde stand außer Frage.
„Ich hatte das nicht wörtlich gemeint“, versuchte sie, den Fremden zu überzeugen, obwohl sie sich das in Wahrheit selbst einreden wollte.
Doch der lachte leise. „Und ob Sie das so gemeint hatten. Es bringt nichts, es zu leugnen. Ich habe den brennenden Zorn und diese absolute Sicherheit in ihrer Stimme gehört, auch wenn die anderen es nicht taten. Ich aber habe zugehört und ich habe mich entschlossen, Ihnen diesen Wunsch zu erfüllen.“
Daniel keuchte auf, als die Finger des Fremden sich seitlich an seinen Kopf legten.
Der Mann beugte sich grinsend zu dem gefesselten Ex herunter und flüsterte. „Willst du ihr nicht erzählen, was du mir erzählt hast?“ Er zog Daniel den Stoff aus dem Mund.
„Glaub ihm kein Wort, Vanessa!“, rief Daniel sofort und keuchte, weil er kaum Luft bekommen hatte. „Er ist der Teufel! Der Leibhaftige!“ Horror spiegelte sich in seinen blauen Augen wieder, die Vanessa fixierten. „Lauf! Lauf weg!“
Der Fremde schüttelte nur den Kopf und seufzte. „Was für eine blühende Fantasie. Dabei kommt er einfach nur nicht damit klar, dass mal jemand schlauer wie er war. Nicht wahr? Und nein, sie wird nicht weglaufen. Denn anders als dir kann sie mir vertrauen.“ Die letzten Worte zischte der Fremde direkt in Daniels Ohr.
Vanessa stand wie betäubt da und schaute abwechselnd auf ihren Ex und den Fremden.
So wie jetzt hatte sie Daniel noch nie erlebt. Er erschien immer selbstsicher und ließ sich von nichts aus der Ruhe bringen. Was auch immer ihm zugestoßen war, es musste blankes Entsetzen in ihm ausgelöst haben.
Trotzdem vertraute sie dem Fremden. Sie konnte es sich nicht erklären, doch etwas in ihr wusste, dass dieser Mann ihr nichts böses wollte. Er wollte ihr helfen.
„Vielleicht müssen wir die Sache ja etwas anders angehen? Wie mir scheint, sind ja noch nicht alle Zweifel beseitigt.“ Der Fremde zog ein kleines Fläschchen aus seiner Jacke und hielt es Daniel unter die Nase.
Daniels Blick klärte sich sofort, wurde leer und leblos. Sein Körper fiel in sich zusammen.
Vanessa schluckte heftig und schaute dem Ganzen wie versteinert zu.
„Sie müssen wissen“, fuhr der Fremde ruhig fort, „dass Ihr Ex und ich im Vorfeld schon eine kleine Unterhaltung hatten.“ Er seufzte erneut. „Und er hat mir Dinge erzählt. Schlimme Dinge.“ Dann beugte er sich zu Daniel herunter und schaute dem blonden Mann direkt in die Augen. „Willst du ihr nicht endlich die Wahrheit erzählen?“
Zuerst schien es, als ob Daniel versuchte, sich gegen etwas zu wehren, das Vanessa nicht sehen konnte. Sein Körper zuckte leicht, seine Lippen pressten sich fest aufeinander. Doch dann begann er mit einer tonlosen Stimme zu sprechen. „Du warst mir zu langweilig. Erst mochte ich dich, doch dann merkte ich, dass ich immer weniger mit dir anfangen konnte. Doch dein Geld hat mir und meinen Affären gut geholfen. Und dein Körper war für den Sex noch gut genug, obwohl sogar deine Schwester mehr Spaß gemacht hat.“
Vanessa fühlte sich, als ob ihr der Boden unter den Füßen weggerissen wurde. Sie taumelte und wurde von dem Fremden aufgefangen, der plötzlich hinter ihr stand.
„Was für ein Schwein, oder?“, säuselte er leise neben ihr.
Seine Worte hallten in ihrem Gehör nach. Ihre Gedanken rasten wild in ihrem Kopf. Sie konnte nicht glauben, was sie da gerade von Daniel gehört hatte. Sogar ihre Schwester sollte sie verraten haben? Rachel hatte ihr nach der Trennung versucht, beizustehen, aber Vanessa hatte jede Hilfe ausgeschlagen. Zu dem Zeitpunkt war alles zu frisch gewesen. Doch sogar sie hatte etwas mit Daniel angefangen? In diesem Moment wusste sie nicht mehr, wem sie überhaupt noch vertrauen konnte. Bis auf einen.
„Du kannst das jetzt ein für allemal beenden, Vanessa“, flüsterte der Fremde mit einem wohltuenden Klang in ihr Ohr. „Wer weiß, wie vielen Frauen er sonst dasselbe wir dir antun wird?“
Instinktiv wusste Vanessa, dass der Mann Recht hatte. Sie spürte sich nicken, dabei hatte sie gerade kaum Kontrolle über ihren Körper. Alles fühlte sich an als würde es schweben.
„Er würde dich immer verfolgen. Immer Teil deines Lebens sein. Willst du das?“
Sie schüttelte den Kopf.
Der Mann lächelte zufrieden. „Dann erlöse dich und die Welt von ihm.“
Zitternd hob Vanessa den Arm und zielte mit dem Revolver auf Daniel, der noch immer wie leblos auf dem Stuhl saß. Bekam er überhaupt mit, was gerade um ihn herum passierte? Vanessa konnte es nicht sagen, doch es war ihr auch egal. Sie sah ihren Feind vor sich. Den Mann, der ihr Leben und das Vertrauen zu allen, die ihr etwas bedeutet hatten, mit seinem Geständnis vollkommen zerstört hatte.
Sie betätigte den Abzug und erlöste sich von ihrem Leid.