„Jannis! Jannis, wo bist du?!“ Erschöpft blieb Kimberly stehen und lehnte sich mit der Schulter gegen einen kräftigen Baumstamm. Sie konnte nicht sagen, wie lange sie schon auf der Suche nach ihrem Freund durch den Wald gelaufen war, ziellos und voller Hoffnung, ihn wiederzufinden. Doch so langsam verlor sie den Glauben an ihren Erfolg. Ihr Atem rasselte fürchterlich, ihre Lungen brannten wie Feuer und jeder einzelne Knochen in ihrem Körper protestierte gegen weitere Belastungen. Die letzten Sonnenstrahlen waren verschwunden, nur das fahle Mondlicht fiel spärlich durch die dichten Baumkronen des Nationalparks.
Am liebsten wäre sie Jannis sofort gefolgt, als dieser panisch die Flucht ergriffen hatte, doch sie war zu geschwächt gewesen. Erst nach einiger Zeit war es ihr, unter großer Anstrengung, gelungen, sich aufzuraffen. Anschließend war sie in das gemeinsame Lager zurückgekehrt, in der Hoffnung, ihren Freund dort zu finden, jedoch gab es keine Spur von ihm. Also hatte sie die Suche wieder aufgenommen und war erneut in den Wald gegangen.
Moment, was ist das? Kimberly schritt langsam durch das Unterholz. Vor sich erkannte sie ein Stück Stoff, welches ihr nur allzu vertraut war. Nein, das darf nicht wahr sein! Ich bin im Kreis gelaufen! Als sie das Gestrüpp zur Seite drückte, wurde auch der letzte Funke Mut davon gefegt. Vor ihr lag die Lagerstätte, von dem aus sie aufgebrochen war! Doch anders als vor ihrem Aufbruch, zeigte sich das Lager nun völlig verwüstet. Das Lagerfeuer war mit Erde überschüttet und das gemeinsame Zelt lag niedergerissen am Boden. Fußabdrücke verteilten sich auf der Plane, als ob jemand darauf wild herumgetrampelt hätte.
Jannis Sachen sind verschwunden!, erkannte sie mit Schrecken. Er muss hier gewesen sein, während ich ihn gesucht habe!
Wutentbrannt stieß sie einen spitzen Schrei aus und schlug mit der geballten Faust gegen die harte Rinde eines Baumes. Das Holz splitterte knackend und flog zu den Seiten davon, Kimberly stöhnte durch den stechenden Schmerz in ihrem Handgelenk auf. Vollkommen entmutigt und entkräftet sank sie auf die Knie. Heiße Tränen flossen über ihre Wangen, hervorgerufen durch ihre Wut auf sich selbst und ihre Angst um ihren Freund. Hoffnungslosigkeit breitete sich in ihr aus.
Wieso habe ich mich bloß zu diesem bescheuerten Ausflug überreden lassen?, verfluchte sie sich stumm für ihre Torheit. Ich hätte mit Jannis zu Hause bleiben sollen, verdammt!
Blanke Verzweiflung übernahm die Kontrolle und ließ Kimberly ungehemmt weinen. Weder konnte sie sich erklären, was mit ihr passiert war, noch hatte sie eine Ahnung, was sie jetzt machen sollte. Ihr Freund war mit seinen Sachen verschwunden und hatte sie alleine im Nationalpark zurückgelassen. Sie war vollkommen auf sich gestellt, während im Wald eine Bestie ihr Unwesen trieb und ihr vermutlich nach dem Leben trachtete. Sie fühlte sich hilflos und absolut verloren.
Sicherlich ist Jannis schon über alle Berge. Und dieses Monster macht bestimmt Jagd auf mich. Immerhin habe ich ihm das Mittagessen verdorben.
Doch tief in ihrem Inneren wusste sie, dass sie nicht aufgeben konnte. Es musste einen Weg geben, aus dieser Wildnis zu entkommen, diesem Albtraum zu entfliehen und nach Hause zu gelangen! Vielleicht würde sich dort ja eine Möglichkeit finden lassen, diesen Alptraum zu beenden oder zumindest eine Erklärung für alles zu bekommen. Nur wie sollte sie das ganz alleine schaffen?
Mit einem Mal nahm sie am Rande ihres Sichtfelds eine Bewegung war. Ruckartig hob sie den Kopf, Angst ergoss sich einem kalten Schauer gleich über ihren Rücken.
Die Bestie!
Hastig sprang sie auf und suchte hinter einem der dicken Baumstämme Schutz. Ihr Herz pochte laut genug, dass Kimberly fürchtete, das Biest könnte es hören. Schweiß trat aus ihren Poren, ihr Hals war ausgetrocknet, rau und kratzig. Vorsichtig spähte sie um den Stamm herum ... und atmete erleichtert aus. Über dem Zelt schwebte das kleine, kugelähnliche Licht, welches sie vor ein paar Stunden schon einmal gesehen hatte. Die Anspannung fiel ihr wie Steine von den Schultern.
„Du!“, rief sie und trat hinter dem Baumstamm hervor. „Wer oder was bist du? Was willst du von mir?“, verlangte sie zu wissen. Dabei achtete sie darauf, dass ihre Stimme möglichst fest und sicher klang, wohl wissend, dass dieses Licht, was auch immer es war, ebenfalls gefährlich sein konnte.
Doch anstatt zu antworten, schwirrte das kleine Licht wild um sie herum, sodass Kimberly erschrocken die Hände hob und einen Schritt nach hinten trat. Das Lichtwesen ließ sich davon nicht beirren und tanzte aufgeregt vor ihrer Nase.
„Was willst du von mir“, wiederholte sie ihre Frage, erhielt jedoch erneut keine Antwort.
Stattdessen flog das Licht ein paar Meter nach vorne und tänzelte in der Luft.
„Soll ich mit dir kommen?“, fragte Kimberly, unsicher, was das Wesen ihr mitteilen wollte.
Das Licht flog höher und kreiste schneller.
Alles in ihr wehrte sich gegen die Idee, der Lichtgestalt nachzulaufen. Sie wusste weder, um was für eine Art Geschöpf es sich handelte, noch, wohin es sie zu führen versuchte. Vielleicht ist das aber meine Chance, Antworten zu bekommen, dachte sie und entschloss sich, dem Wesen zu folgen. Schlimmer kann es ja nicht mehr werden. Oder?
Sie wusste nicht, wie lange sie dem Lichtwesen durch das dichte Unterholz gefolgt war. Doch schließlich wurde sie zu einer Lichtung geführt, welche sich weit entfernt von ihrer Lagerstätte befand.
„Was wollen wir hier?“, fragte Kimberly, während sie tief durchatmete und den Blick auf das Lichtwesen gerichtet hielt.
Sie hatte bisher keine Sekunde Zeit gehabt, die Geschehnisse des Tages zu verarbeiten. Der Schock und die Angst hafteten weiterhin an ihrer Seele und hielten sie fest, gleich einer eisernen Kralle, die sich um ihr Herz gelegt hatte.
Ihre Frage beantwortete sich von selbst, als sie den Blick nach vorne richtete und einen schwer verletzten Mann entdeckte, der vom Mondlicht beleuchtet, mit dem Rücken an einem Baum lehnte. Sowohl sein kariertes Hemd als auch die Jeanshose waren zerrissen und voller Blut. Der Verletzte stöhnte bei der kleinsten Bewegung auf, der Schirm einer Sonnenmütze verdeckte den Großteil seines Gesichts. Lediglich die zusammengebissenen Zähne, die vor Anstrengung leise in der Stille der Nacht knirschten, konnte sie erkennen.
Er muss ebenfalls von der Bestie angefallen worden sein!, dachte Kimberly und schlug entsetzt ihre Hände vor dem Mund zusammen. Doch als sie einen Schritt auf den Mann zutrat, blieb sie wie angewurzelt stehen.
Die unbekannte Macht, welche sie schon beim Anblick des Monsters verspürt hatte, loderte tief in ihrem Inneren auf und bemächtigte sich erneut ihres Verstands. Der rote, nebelartige Schleier legte sich vor ihre Augen, das Adrenalin pumpte schneidend durch ihren Körper. Die bereits geschundenen Muskeln spannten sich schmerzhaft an. Müdigkeit und Erschöpfung waren angesichts der Kraft, die sie durchströmte, wie vergessen.
„Bestie“, hörte sie sich knurren, ohne selbst etwas gesagt zu haben. Ihre Stimme klang eisig, gleichzeitig trotz alledem aber erhaben.
Wer oder was spricht da aus mir?, rief sie panisch in ihren Gedanken und versuchte mit aller Kraft, die Kontrolle über ihren Verstand zurückzuerlangen. Doch was auch immer sich ihrer bemächtigt hatte, war ihr eindeutig überlegen. Etwas hatte Kimberly in den hintersten Teil ihrer inneren Welt eingesperrt und zwang sie, machtlos mit anzusehen, was sich vor ihren Augen abspielte. Allem voran sah sie die feinen, roten Linien, die sich durch den gesamten Körper des Mannes zogen und am Herzen zusammenliefen. Seine Wunden hatten sich im Gegensatz zu Kimberlys nicht geschlossen. Wie aus dem Nichts überkam sie die Lust, ihre Zähne den Hals des Mannes zu rammen und sich an seinem Blut zu laben. Allein der Gedanke daran bereitete ihr panische Angst.
Vorsichtig hob der Verletzte den Kopf. Der Blick aus seinen tiefschwarzen Augen, in denen sich das Licht des Mondes widerspiegelte, war messerscharf. „Oh, du schon wieder“, murmelte er und verzog das Gesicht, als er versuchte, einen Arm zu bewegen. „Bist du hier, um mir den Rest zu geben?“
„Wie könnte ich mir das entgehen lassen?“, erwiderte das Wesen, welches Kimberly übernommen hatte. „Es wird Zeit, dass wir euch Flohsäcke vom Angesicht der Erde tilgen.“
„Große Töne für ein Jungblut“, antwortete der Verletzte mit einem spöttischen Lächeln. „Aber nur zu. Bedien dich. Ich werde es sowieso nicht schaffen. Hast mich ziemlich gut erwischt.“ Seine Worte wurden durch einen Hustenanfall unterbrochen, bei dem weiteres Blut zwischen seinen aufgeplatzten Lippen hervortrat.
Kimberly spürte, wie ihr Körper sich in Bewegung setzte. Das Verlangen, das Blut der Bestie zu saufen und sich am Tod der Kreatur zu ergötzen, wurde immer größer.
Nein! Tu das nicht! Ich will endlich Antworten! Doch sie bewegte sich scheinbar unaufhaltsam weiter auf den Mann zu, der inzwischen den Kopf wieder gesenkt hatte. Das Wesen selbst erwiderte nichts auf ihr Rufen. Bleib gefälligst stehen! Tu, was ich dir sage! Mit aller Kraft stemmte sich Kimberly gegen die unheilvolle Macht, welche Besitz von ihr ergriffen hatte. Immer weiter grub sie sich aus ihrem Gefängnis an die Oberfläche und überwand die Hindernisse, die ihr von der unbekannten Kreatur entgegengeworfen wurden.
„Was bin ich?“, rang sie sich die Frage über die Lippen, als sie es endlich schaffte, durch den roten Schleier zu dringen und stehen zu bleiben. „Und was bist du?“
Die Lippen des Mannes verzogen sich zu einem triumphierenden Lächeln. „Hatte ich also doch recht mit dem Jungblut“, ächzte er, als er sich unter Schmerzen etwas aufrichtete. „Du weißt es nicht, oder? Was mit dir passiert? Wieso du solch eine Lust verspürst, mich zu töten.“
„Nein“, antwortete sie und spürte, wie sie die Kontrolle zu verlieren drohte. Das Wesen in ihr kämpfte gegen sie an. „Sag es mir.“
„Wieso sollte ich dir irgendwas sagen? Ich bin dir keine Erklärung schuldig.“
„Sag es mir, und ich bringe das Wesen dazu, dich zu verschonen“, versprach sie ihm aus purer Angst heraus, nicht rechtzeitig Antworten zu bekommen.
In wenigen Augenblicken würde das, was in ihr rumorte und sich zu befreien drohte, sie überwältigen. Es grollte in Kimberlys Gedanken, schrie unverständliche Worte und kämpfte mit aller Härte gegen sie an.
Der Mann lachte schallend auf, bevor er den nächsten Hustenanfall erlitt und kurz verstummte. Sein Körper erzitterte krampfhaft. „Ich werde eh sterben, Mädchen. Völlig egal, was du versuchst. Versteh es endlich. Dieser Krieg dauert schon zu lange an.“
„Krieg? Was für ein Krieg?“
„Verdammt, wenn du wissen willst, was aus dir geworden ist, warum schaust du dich nicht selbst im Spiegel an?!“, blaffte der Verletzte und sank wieder in sich zusammen. Zitternd hob er den Arm und deutete auf eine ein paar Meter entfernte Wasserlache. „Sieh selbst.“
Unsicherheit überfiel Kimberly. Wollte sie wirklich sehen, was aus ihr geworden war? Bilder des Monsters tauchten in ihren Gedanken auf und riefen die schrecklichen Erinnerungen an das, was am Tag vorgefallen war, erneut herauf. Was, wenn sie sich ebenfalls in ein solches Biest verwandelt hatte? Konnte sie mit dem Wissen weiterleben? Doch sie war zumindest einem Teil der Antworten auf ihre Fragen nun so nahe, konnte sie es sich da leisten, jetzt aufzugeben?
Und was passiert, wenn ich dem Monster in mir wieder erlaube, die Kontrolle zu übernehmen?
Ihre Beine zitterten und wirkten gleichzeitig schwer wie Blei. Das Wesen in ihr kämpfte weiterhin um die Herrschaft über ihren Körper, lechzte förmlich nach dem Blut ihres Feindes, der sterbend am Boden lag und sich kaum noch rührte. Kimberly brauchte jedes bisschen an Willenskraft, welches übrig geblieben war, um ihre Beine in Richtung Lache zu bewegen. Dort angekommen sank sie auf ihre Knie nieder und schaute in das vom Mondlicht erhellte Wasser. Der Anblick, der sich ihr bot, ließ sie entsetzt aufkeuchen.
Ihre dunkelbraunen Haare waren vollkommen zerzaust, doch die Strähne, welche sie nie gebändigt bekam, schien schneeweiß in der Spiegelung des Wassers. Ihre Haut war aschfahl, gleich einem Toten in einer Pathologie. Am schrecklichsten war jedoch der Anblick der blutroten Augen, deren Blick sich förmlich in ihre Seele fraß und dafür sorgte, dass es Kimberly schlagartig heiß und kalt wurde. Sofort wurde ihr übel, sie würgte und übergab sich.
Was ist nur aus mir geworden?!
Panik machte sich erneut in ihr breit, zusammen mit der Erkenntnis, dass Jannis sich wahrhaft wegen ihr so erschrocken hatte. Die ganze Zeit über hatte sie sich an der Hoffnung festgekrallt, dass er vielleicht nur das Wesen im Unterholz entdeckt hatte und deshalb weggelaufen wäre. Doch nun blieb kein Zweifel mehr daran, was ihn so panisch hatte flüchten lassen.
Es dauerte einen Moment, bis Kimberly die Kraft fand, sich zu erheben und zur sterbenden Bestie zu taumeln. Alles in ihrem Kopf drehte sich, doch sie brauchte Antworten.
Was hat mir das angetan? Welches grausame Monster steckt in mir? Und wie werde ich es wieder los?
Doch als sie den Mann endlich erreichte, war dieser bereits seinen Verletzungen erlegen. Das Biest in ihr beruhigte sich wieder. Anscheinend gab es nichts mehr für sie zu tun. Mit dem Dämon in ihr verschwanden auch dessen Kräfte. Kimberlys Beine gaben nach, sie sackte vor dem Toten ins weiche Gras. Ein heftiger Schwindel überkam sie
In diesem Moment vibrierte etwas in Kimberlys Jackentasche.
Mein Handy! Das habe ich in der Aufregung komplett vergessen!
Eilig fischte sie ihr Smartphone aus der Tasche ihrer zerrissenen Jacke und nahm den Anruf entgegen, ohne auf das Display zu schauen. „H-Hallo?“, brachte sie nur stotternd hervor.
„Kimberly?“
„Johanna!“ Kimberly spürte, wie ein Teil der Anspannung von ihren Schultern fiel. „D-Du musst mir helfen! Es ist etwas Schreckliches passiert!“ Ihre Stimme überschlug sich und wurde mit jedem Wort höher.
„Kimberly, beruhige dich!“, forderte Johanna ihre Freundin forsch auf. „Ich weiß, was passiert ist.“
Sie stockte. „Du weißt es? W-was soll das heißen?“
„Nicht am Telefon. Komm zum Ausgang des Parks, dort wartet ein Wagen auf dich“, antwortete sie mit einem verschwörerischen Unterton.
Was hat sie? So ist sie normalerweise gar nicht.
„Hast du verstanden?“, hakte Johanna nach, nachdem Kimberly kurze Zeit keine Antwort gab.
„Zum Ausgang, ein Wagen wartet“, fasste sie zusammen, verunsichert vom Verhalten ihrer Freundin.
Ohne ein weiteres Wort legte Johanna auf.