„Hier, Detektiv, Ihr Tee.“
„Vielen Dank.“ Detektiv Feng Lao Cheng nahm die Zeitschrift zur Seite, die man ihm für die Wartezeit zum Lesen gegeben hatte, und ließ den Bediensteten das Tablett mit der Teekanne und zwei Tassen abstellen.
Der Bedienstete goss ihm den Tee ein und verbeugte sich leicht. „Wenn Sie noch etwas wünschen, sagen Sie gerne Bescheid.“
„Danke, das wird nicht nötig sein. Aber sagen Sie, wann kommt denn Professor Tao Zhe?“
„Oh, ja, ich soll Ihnen von Herrn Zhe ausrichten, dass er nur noch ein paar Minuten benötigt. Dann wird er sich zu Ihnen gesellen.“
Cheng nickte dankend und beobachtete den Bediensteten, wie dieser sich in das große Anwesen zurückzog. Anschließend ließ er den Blick über das Gebäude und den ausladenden, prächtig gepflegten Garten schweifen.
Die Sonne hatte mittlerweile ihren höchsten Punkt erreicht und schien auf den grünen Rasen und die Blumenbeete hinab. Die hellen Strahlen spiegelten sich auf der ruhigen Wasseroberfläche des kleinen Teichs, welcher den hübschen Pavillon umgab, in dem Cheng gerade saß und auf den Professor wartete. Japanische Nishikigoi, besser bekannt als Koi, tauchten unter dem Pavillon hindurch und genossen das ruhige Wasser. Ein Eichhörnchen hatte sich verlaufen und flitze über die grauen Gehwegplatten, die in den Rasen eingesetzt waren.
Das weckte in Detektiv Chengs Gedanken den Wunsch nach etwas Urlaub.
Am liebsten wäre ich jetzt auf meinem Hausboot unterwegs. Irgendwo, wo es ruhig ist und ich mich entspannen kann.
Cheng seufzte, denn wenn er eines wusste, dann dass das Verbrechen keinen Urlaub machte. Und da die Mordkommission derzeit unterbesetzt war, hatte sein Vorgesetzter ihm seinen Urlaub gestrichen und ihm den aktuellsten Fall vorgelegt.
Der Detektiv griff in seine Tasche und holte eine der metallenen Nadeln hervor, welche an jedem der Tatorte gefunden worden waren. Langsam strich er mit den Fingern über den geschmiedeten Schwalbenkopf, der als eine Art Griff diente. Wofür man solch eine Nadel benötigte, entzog sich Chengs Vorstellung, jedoch war er sich sicher, dass hinter den Morden eine Bedeutung stecken musste. Und damit auch hinter diesen Schwalbennadeln. Daher erhoffte er sich die Hilfe von Professor Tao Zhe, der sich in seiner Laufbahn auf antike Kunst und Geschichte spezialisiert hatte. Vielleicht lag ja in der Geschichte die Lösung des Rätsels.
„Detektiv?“
Cheng hatte gerade einen Schluck des heißen Tees genommen, als er eine freundliche Stimme neben sich hörte. Er schaute auf und sah einen kleinen, untersetzten Mann mit Glatze die Treppe zum Pavillon aufsteigen. Er trug einen fein geschneiderten Anzug, wahrscheinlich aufgrund des geschäftlichen Treffens, wegen dem Cheng im Garten hatte warten müssen.
Der Detektiv stand auf und verbeugte sich. „Richtig. Detektiv Feng Lao Cheng. Aber nennen Sie mich bitte einfach Cheng, so nennt mich jeder.“
„Erfreut, Sie kennenzulernen, Detektiv Cheng.“ Der Professor verbeugte sich ebenfalls. „Ich bin Professor Tao Zhe.“ Daraufhin nahm der untersetzte Mann auf dem Stuhl gegenüber des Detektivs Platz und wischte sich mit einem rosa Tüchlein den Schweiß von der Stirn. „Verzeihen Sie bitte, aber diese Hitze kocht mich noch bei lebendigem Leibe.“
Ein bisschen Sport würde nicht schaden, dachte Cheng sich und biss sich schnell auf die Zunge, bevor er die Worte aus Versehen laut aussprechen konnte. Schuld daran war seine direkte Art, die ihm schon einigen Ärger eingebracht hatte, insbesondere mit seinen Vorgesetzten. Glücklicherweise lernte er langsam, seine Zunge im Zaum zu halten. Zumindest da, wo es ihm hilfreich erschien. Und den Professor zu verärgern wäre in seinem Fall alles andere als ratsam. „Ja, es ist heute wirklich ziemlich warm. Aber ich bin es gewohnt“, antwortete er stattdessen und setzte sich ebenfalls.
„Woher kommen Sie, wenn ich so neugierig sein darf?“
„Aus Kowloon“, antwortete Cheng wahrheitsgemäß. „Dort wird es regelmäßig mal wärmer, vor allem im Sommer.“
„Oh, ein schöner Stadtteil in Hongkong! Dann ist es ja kein Wunder. Und mit einigen mystischen Geschichten und Sagen durchzogen.“ Tao Zhe lächelte freundlich und goss sich selbst etwas von dem Tee ein. „Dann sagen Sie mir doch mal, wie ich Ihnen helfen kann.“
„Sehr gerne.“ Cheng holte einen Ordner mit freigegebenen Akten hervor und reichte sie dem Professor. „Derzeit untersuche ich einen Mordfall. Der Mörder hat in den letzten vier Wochen drei Morde begangen, doch ich komme mit den Ermittlungen momentan nicht weiter.“ Er machte eine kurze Pause und gab dem Professor Zeit, sich die Akten anzuschauen. „Die Mordopfer sind alle Kampfsportler, Meister in ihrem jeweiligen Gebiet. Daher stellt sich mir die Frage, wer stark genug sein könnte, diese Meister zu besiegen. Doch noch viel wichtiger ist es, das Motiv herauszufinden. Weshalb hat jemand es auf die Kampfsportler abgesehen?“
Tao Zhe runzelte leicht besorgt die Stirn. „Ich weiß nur leider nicht, inwiefern ich Ihnen dabei weiterhelfen kann, Detektiv. Es tut mir leid, aber ich kenne mich mit Kunst und Geschichte aus, nicht mit der Psyche von Mördern.“
„An jedem Tatort wurde eine dieser Schwalbenkopfnadeln gefunden“, fuhr der Detektiv fort und reichte dem Professor das Beweisstück. Als er Interesse in den Augen des Mannes aufblitzen sah, wusste der Detektiv, dass er sich an den Richtigen gewandt hatte. „Sie steckten alle in den Körpern der Opfer, jedoch immer an unterschiedlichen Stellen.“
„Und wo genau?“, hakte der Professor nach, während er sich die Nadel ganz genau ansah.
„Die erste fanden wir in der rechten Hand des Opfers. Beim zweiten Opfer steckte die Nadel im linken Bein und beim aktuellen Fall fanden wir sie in der linken Armbeuge.“
„Schläge, Tritte, Griffe“, murmelte der Professor so leise, dass Cheng es nur knapp verstanden.
„Was meinen Sie damit, Professor?“
„Detektiv Cheng, kann es sein, dass das erste Mordopfer ein Boxer war?“
„Richtig.“ Cheng schaute verblüfft und wollte gerade etwas fragen, wurde jedoch von Tao Zhe unterbrochen.
„Und das zweite Opfer war vielleicht ein … Kickboxer?“
„Nicht ganz, er war Meister im Ju-Jutsu.“
„Und das dritte Mordopfer war vielleicht ein Wrestler?“, mutmaßte der Professor weiter, als hätte Chengs Einwand ihm trotzdem etwas bestätigt.
„Das stimmt. Woher wissen Sie das alles?“ Langsam bekam Cheng ein mulmiges Gefühl.
Hat er das alles aus der Nadel gelesen? Unmöglich.
Tao Zhe lächelte geduldig und zeigte auf auf die Nadel in seiner Hand. „Ich bin froh, dass Sie zu mir gekommen sind. Denn in diesem Fall könnte wirklich die Geschichte das Motiv sein.“
„Inwiefern? Was wissen Sie über diese Nadel?“
„In der Zeit der Ming-Dynastie, vor allem in den Zeiten von Kaiser Hongzhi und Zhengde, versammelten sich in jedem Jahr die besten Martial-Arts-Kämpfer am kaiserlichen Hofe.“ Der Professor räusperte sich, nahm einen Schluck Tee und fuhr dann fort. „Sie kämpften dort in einem Turnier um die Ehre ihrer jeweiligen Disziplin. Jeder, der seine Runde verlor, bekam vom damaligen Verteidigungsminister einen Anstecker. Diesen Anstecker“, verdeutlichte Tao Zhe und deutete auf die Nadel in seiner Hand.
„Also als eine Art Trostpreis?“ Cheng versuchte bereits, sich gedanklich einen Reim auf die Sache zu machen.
„So mag es vielleicht auf den ersten Blick erscheinen, und vielen wurde es auch so gesagt, doch dieser ‚Preis‘ sagte aus, dass die Kampfkunst des jeweiligen Kämpfers unnütz war. So wurde Jahr für Jahr eine neue Kampfkunst gesucht, die es wert war, gelehrt und weitergegeben zu werden.“
„Unnütz?“ Cheng schaute überrascht.
Tao Zhe nickte. „Früher hatte man nicht nur Waffen auf dem Schlachtfeld, sondern auch die jeweiligen Kampfkünste. Und was nutze eine Kunst, wenn sie gegen eine andere nicht bestehen konnte? Daher wurde die Disziplin des Siegers an vielen Schulen weitergegeben. Die Schulen aller anderen Disziplinen verloren jedoch ihre Schüler.“
„Und was hat der Schwalbe mit alldem zu tun?“
„Nun, Detektiv, der Schwalbe war früher das Sinnbild der Nutzlosigkeit. Schließlich nistete er nur unter dem Dach des Palastes, brütete dort seine Jungen aus und verschwand anschließend wieder. Er tat nichts, was einem anderen Tier – oder noch wichtiger, dem Menschen – geholfen hätte. Daher beschloss man, dem Wort ‚Nutzlos‘ - oder eben der Nutzlosigkeit - das Bild der Schwalbe zuzuordnen.“
„Also will der Mörder … was?“, stutzte der Detektiv. „Zeigen, dass seine Kampfkunst die Stärkste ist?“
„Oder zeigen, dass nicht er nutzlos ist, sondern die anderen Meister. Vielleicht ist der Mörder jemand, dem nie Beachtung geschenkt wurde?“
„Jemand, der sich beweisen will“, schloss der Detektiv.
Endlich habe ich eine Spur!
„Das kann ich mir sehr gut vorstellen.“ Professor Tao Zhe stand auf und reichte Cheng den Anstecker zurück. „Wenn Sie mich jetzt entschuldigen wollen, ich habe leider noch einen Termin, der keinen Aufschub duldet.“ Er lächelte entschuldigend.
Detektiv Cheng sammelte die Akten und das Beweisstück ein und stand ebenfalls auf. Dann verbeugte er sich. „Vielen Dank für ihre Hilfe, Professor. Ihr Wissen hat mir schon sehr weitergeholfen.“
„Sehr erfreut. Ah, und noch etwas, Detektiv Cheng“, sagte Tao Zhe plötzlich leise. „Seien Sie vorsichtig. Wie Sie sehen, geht der Mörder auch über Leichen.“
Nach der Verabschiedung eilte Detektiv Feng Lao Cheng durch den Garten zu seinem Dienstwagen zurück. Tausend Gedanken schossen ihm durch den Kopf und er überlegte fieberhaft, wo er bei seinen Ermittlungen mithilfe des neu erworbenen Wissens ansetzen konnte. Fest stand, dass er sich beeilen musste. Denn wenn es wirklich zutraf, dass der Mörder die Meister verschiedener Disziplinen aufsuchte und sie umbrachte, ausschließlich um zu beweisen, dass er es konnte, würde er weiter machen, bis es keinen Meister mehr gab.
Doch wer ist der Nächste? Auf wen könnte er es noch abgesehen haben?
Er stieg in den Dienstwagen und rief bei der Zentrale an. „Ja, Cheng hier. Dai Ying, bitte such mir die Akten aller Fälle heraus, in denen es um Kampfsportler ging. Ja, alle. Bitte, es ist wichtig. Leg sie auf meinen Schreibtisch, ich bin schon auf dem Weg zurück zur Zentrale. Danke!“
Cheng startete den Motor und machte sich auf zur Zentrale. Er wusste, dass er der Lösung des Falls einen großen Schritt näher gekommen war. Doch er wusste auch, dass er sich beeilen musste.
Der Mörder würde nicht auf ihn warten.