Sofort rannte Kimberly tiefer in den Wald hinein, in die Richtung, aus der der Schrei die Stille durchbrochen hatte.
Das war Jannis, ganz sicher!
Innerlich verfluchte sie ihr Bauchgefühl dafür, sie nicht getäuscht zu haben. Solch einen markerschütternden Schrei hatte sie noch nie in ihrem Leben gehört.
Kimberly hetzte durch das dichte Buschwerk und blieb dabei immer wieder an kleinen Zweigen hängen oder stolperte über aus dem Boden ragende Wurzeln. Ihr Herz pochte wild, das Adrenalin strömte durch ihren Körper und trieb sie weiter an. Es war ihr unmöglich, einen klaren Gedanken zu greifen, wie ein Mahlstrom wirbelten diese durch ihren Kopf. Nur die Angst um ihren Freund war allgegenwärtig und umklammerte ihr Herz mit einem eisigen Griff.
„Jannis!“, rief sie verzweifelt, in der Hoffnung, er würde ihr auf irgendeine Weise antworten. Doch bis auf das Knacken und Brechen der Äste unter ihren Stiefelsohlen hörte sie nichts.
Verflucht, wo ist er bloß?
Nach einer gefühlten Ewigkeit lichtete sich der dichte Wald langsam vor ihr. Was sie vor ihr auftat, erweckte ein bisher unbekanntes Grauen in ihr. Etwa einhundert Meter vor ihr sah sie ihren Freund, der unter einem gewaltigen Tier lag und um sein Leben kämpfte. Alles in ihr krampfte sich zusammen. Das Gestrüpp verdeckte große Teil der Bestie, die ein tiefes Knurren von sich gab, welches Kimberly selbst auf diese Entfernung durch Mark und Bein fuhr und ihr einen eiskalten Schauer über den Rücken jagte. Erst als sie sich der Lichtung näherte, war es ihr möglich, mehr zu erkennen.
Die Bestie war eine Mischung aus einem Wolf und einem Bären. Dunkelbraunes Fell bedeckte den gesamten Körper bis auf einen auffälligen tiefschwarzen Streifen, der sich, einem Aal gleich, vom Kopf bis zur Spitze seiner Rute zog. In den schwarzen Augen lagen ein tiefer Hass und eine ungebändigte Wildheit. Geifer troff aus der langen, mit scharfen Zähnen bewährten Schnauze, mit der das Biest immer wieder nach seinem Opfer schnappte.
Jannis wehrte sich mit Händen und Füßen, prügelte und trat wirkungslos auf das Ungetüm ein und wich dabei nur knapp den Angriffen des Monstrums aus.
Der Anblick der Bestie, welche mit ihren klauenartigen Pfoten den Jungen auf den Boden drückte und zu zerquetschen drohte, erweckte etwas in Kimberly. Eine bisher unbekannte Kraft loderte tief in ihrem Körper auf. Ihr Fokus legte sich allein auf das Biest, der Wald und alles andere um sie herum verschwammen in einem blutroten Nebel und schienen wie vergessen. Kimberly spürte, wie ihr Geist die Kontrolle an ihre ureigenen Instinkte übergab. Ein urtümlicher Groll stieg in ihrer Brust auf und richtete sich gegen das Biest, welches sie nicht einmal zu benennen vermochte. Doch ihr war, als wüsste sie, was dort vorne ihrem Freund nach dem Leben trachtete. Ein uralter Feind, den sie bekämpfen musste. Vernichten musste.
Mit einem spitzen Schrei und einem kräftigen Sprung stieß Kimberly durch das Gestrüpp. Die Bestie hob aufgescheucht den Kopf, doch da war es schon zu spät. Sie katapultierte sich aus dem Wald hinaus auf die Lichtung, prallte gegen den Körper des Wolfbären und riss ihn von Jannis herunter. Zusammen mit dem Monster krachte sie hart auf den Boden. Die Bestie kämpfte verbissen gegen die neue Angreiferin. Sie rollten über Äste, Steine und Wurzeln, doch Kimberly, erfüllt von ungeahnter Kraft, setzte sich ebenso hartnäckig zur Wehr. Sie kratzte und biss ihren Feind, beide knurrten, fauchten und stöhnten schmerzerfüllt auf, wenn der andere einen glücklichen Treffer landen konnte. Sie spürte das heiße Blut des Monsters zwischen ihren Fingern und Zähnen und wie es sie anstachelte, bis zum Ende weiterzukämpfen.
Doch die Bestie hatte Glück. Eine Kralle bohrte sich in den Rücken seiner Angreiferin. Kimberly schrie auf und lockerte ihren Griff, zum Vorteil ihres Kontrahenten, der es schaffte, sie von sich zu stoßen. Hart prallte sie mit dem Rücken auf dem Waldboden auf, etwas Spitzes bohrte sich zwischen ihre Schulterblätter. Keuchend versuchte sie, sich aufzurichten. Doch die Kräfte, die sie gerade noch angetrieben hatten, schienen aus ihrem Körper zu weichen. Sie knickte ein und sank ächzend auf die Seite. Gerade noch aus dem Augenwinkel sah sie, wie ihr Gegner humpelnd ins Unterholz flüchtete.
Erst nach einiger Zeit fühlte Kimberly sich wieder in der Lage, sich zu bewegen. Der rote Schleier war aus ihrem Sichtfeld verschwunden, in ihrem Kopf dröhnte der Lärm mehrerer Baustellen. Nur mit großer Mühe grlang es ihr, sich auf alle viere zu heben und schließlich auf die Knie zu hocken. Als sie an sich heruntersah, war ihr, als sei sie aus einem Alptraum erwacht. Überall an ihrer zerrissenen Kleidung und in ihren zerzausten, dunklen Haaren klebte Blut. Ihre mintgrüne Daunenjacke hing nur noch in Fetzen an ihr, und sowohl das schwarze Shit ihrer Lieblingsband als auch ihre dunkelblaue Jeanshose hatten viel einstecken müssen. Sie zuckte zusammen, als die Wunde auf ihrem Rücken mit einem brennend heißen Schmerz auf sich aufmerksam machte. Ihre Atmung ging schnell, ihre Lungen brannten ebenso wie die Verletzung.
Ruhig bleiben. Durchatmen, mahnte sie sich selbst und versuchte, den Gedanken in die Tat umzusetzen. Sie zitterte am ganzen Leib, der Schweiß trat ihr aus den Poren. Was ist hier eben passiert? Jannis!
Sie wollte sich gerade umdrehen, als sie die Stimme ihres Freundes hinter sich hörte. „K-Kimberly“, stotterte er stockend, „ist alles in Ordnung?“
Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Ihr Kopf dröhnte, einen klaren Gedanken zu fassen schien beinahe unmöglich. Also beschloss sie, ihn anzusehen und etwas – hoffentlich - Beruhigendes zu sagen.
Doch bevor sie einen Ton herausbrachte, stieß Jannis einen spitzen, panischen Schrei aus. Er taumelte wie von etwas Unsichtbarem getroffen ein paar Schritte zurück und fiel auf seinen Hintern. Blut trat aus einer Wunde an seiner Stirn hervor und lief über seine Wange. Zitternd hob er den Arm und deutete anklagend auf seine Freundin. „D-D-Du bist e-eine von ihnen!“, rief er schockiert. In seinen Augen konnte Kimberly blankes Entsetzen erkennen. „E-Eine von ihnen!“
„W-was redest du da?“, fragte Kimberly und spürte selbst Panik in sich aufsteigen. Sie hatte noch nicht ansatzweise verarbeitet, was gerade passiert war, und jetzt schien ihr Freund ebenfalls durchzudrehen. „Jannis, beruhige dich!“ Die Ironie, dass ausgerechnet sie diese Worte aussprach, entging ihr dabei nicht.
„Bleib mir fern, Bestie!“, schrie er hysterisch, als seine Freundin sich ihm zu nähern wagte. Er strampelte mit den Beinen und trat nach ihr, um sie sich vom Leibe zu halten. Erst, als er etwas Halt gefunden hatte, rappelte er sich hastig vom Boden auf. „Bleib fern von mir! Es ist wahr! Es ist alles wahr!“
Bevor Kimberly ihn aufhalten konnte, rannte ihr Freund in den Wald hinein. So blieb sie alleine und verwirrt auf der Lichtung zurück. Um sie herum war alles still. So, als wäre die Welt zum Erliegen gekommen.
Was ist nur los? Was ist mit mir passiert? Was war das für ein Monster?
Während ihr diese Fragen durch den Kopf schossen, bemerkte sie, dass die unbändige Haarsträhne wieder in ihr Gesicht gefallen war.
Sie war schneeweiß.