Gehetzt rannte Lina durch den Wald, so schnell ihre Beine sie tragen konnten. Mehrfach stolperte sie dabei über Wurzeln, die aus dem Boden herausgewachsen waren, sowie kleinere Steine, die unter dem Laub versteckt waren.
Mehr als einmal war sie dabei gestürzt. Ihre Hose war an den Knien aufgerissen, ihre Handflächen wund. Genau wie ihre Unterarme, die sie zum Schutz vor ihr Gesicht hielt, damit tiefliegende Äste und höhere Sträucher ihr dieses nicht auch noch zerkratzten.
Lina war völlig außer Atem, doch sie konnte sich keine Pause erlauben. Sie mochte sich gar nicht vorstellen, was mit ihr passieren würde, wenn ihre Verfolger es schaffen würden, sie einzuholen.
So gut es ging ignorierte sie das stechende Brennen in ihren Lungen, die nach einer Pause schrien. Ihr Körper war schweißgebadet. Der Zopf, den sie sich gebunden hatte, hatte sich zwischenzeitlich gelöst und so fielen ihr die nassen, feuerroten Haare ins Gesicht und versperrten ihr die Sicht oder verfingen sich schmerzhaft in den Ästen.
Während sie rannte, flossen unaufhörlich die Tränen. Ihre Gedanken hingen bei ihren Eltern, die sie noch rechtzeitig hatten warnen können, bevor die Bewohner aus dem Dorf in ihr Haus gestürmt kamen.
Sie hatte sich im Keller verstecken können, zwischen den Weinfässern, die ihr Vater für seine Arbeit benötigte.
Immer wieder hatten die Bewohner lautstark die Übergabe der Hexe gefordert, doch ihre Eltern hatten sie bis zuletzt beschützt.
Mehr aus Zufall hatte sie den geheimen Gang entdeckt, der im Keller zwischen den Fässern verborgen lag.
In Panik, weil sie nicht wusste, was sie hätte tun können, öffnete sie die Luke und verschwand in den Gang. Dort hatte ihre Flucht begonnen.
Als sie schließlich am Rand des Waldes wieder herauskam, hatte sie zurückgeschaut und voll Schrecken die Flammen beobachtet, die von dort aus in den Himmel stoben, wo vorher ihr Elternhaus gestanden hatte.
Hinter ihr knackte es laut. Während sie rannte, schaute sie über ihre Schulter und sah gespenstische Schatten zwischen den Bäumen und Sträuchern wetzen.
„Da ist die Hexe!“, rief eine laute Stimme in den Wald, und voller Panik erkannte Lina, dass ihr Vorsprung nicht so groß war, wie sie erhofft hatte. Sie hatten sie eingeholt.
Ohne auf den Boden vor sich zu achten, lief sie so schnell sie konnte tiefer in den Wald.
Schließlich, als sie die Kraft beinahe ganz verlassen hatte, stolperte sie und fiel hart auf den Boden.
Keuchend und mit einem schrecklichen Brennen in der Brust lag sie auf dem feuchten Laub und schaffte es kaum, auch nur einen Finger zu rühren.
Die Angst breitete sich weiter in ihr aus, umgriff ihr Herz wie eine stählerne Klaue und drohte es zu zerquetschen.
Sie schluckte und musste erkennen, dass sie keine Kraft mehr hatte. Die Flucht war vorbei, und ihre Verfolger würden sie jeden Moment finden und gefangen nehmen. Die Angst hatte von ihrem Körper Besitz ergriffen. So sehr sie sich bemühte, sie konnte sich nicht bewegen.
Bilder rauschten durch ihre Gedanken. Sie sah sich auf dem Scheiterhaufen stehen, oder an einem Stuhl gefesselt im See versunken. Der Folterkeller blitze vor ihrem geistigen Auge auf, zeigte die Werkzeuge und den Foltermeister, der ihr das falsche Geständnis entlocken würde. Zumindest zeigte sich die Kammer so, wie sie sich diese in ihren Gedanken vorstellte, denn gesehen hatte sie noch keine. Sie hatte es auch nie vorgehabt.
So oder so, ihr Leben würde sehr bald ein frühes Ende finden...