Einundneunzig. Zweiundneunzig. Dreiundneunzig. Vierundneunzig.
Ricky zählte in Gedanken jeden Sprung über das Seil mit. Er wusste, dass er nicht mehr viel Zeit hatte um sich vernünftig aufzuwärmen. Aber diese Zeit wollte er nutzen. Auch um seine Nervosität unter Kontrolle zu bekommen, die ihm seit mehreren Tagen keine Ruhe mehr ließ.
Nachdem er die einhundert Sprünge geschafft hatte, legte er das Seil beiseite und setzte sich auf die Holzbank. Er fühlte sich bereit, und gleichzeitig auch wieder nicht. Dieses Gefühl beunruhigte ihn, weil es gänzlich neu war. Vor keinem Kampf hatte er sich je so nervös gefühlt, vielleicht nicht mal vor seinem ersten Kampf.
Doch der Kampf heute war nicht wie jeder andere.
Gerade, als er einen Schluck aus seiner Wasserflasche nahm, klopfte es an der Tür. Noch bevor er überhaupt etwas sagen konnte, wurde sie geöffnet, und sein Trainer stand mit strahlendem Lächeln vor ihm.
„Ricky! Champ!“, begrüßte der Trainer ihn so laut wie immer. „Und? Wie schaut es aus, Champ? Bereit, in den Ring zu steigen?“
„Natürlich, Trainer“, antwortete Ricky in der Hoffnung, dass vor allem sein Trainer ihm seine Unsicherheit nicht anmerken würde. Natürlich bemerkte er sie doch.
„Nervös, was?“ Der Trainer setzte sich neben Ricky auf die Bank und schaute ihn von der Seite an.
Er konnte das Feuer sehen, welches in den Augen des Trainers brannte. Verständlich, wenn man bedenkt, dass sie beide auf dieses Event hingearbeitet hatten. „Ja, ein bisschen schon. Und es stört mich. Ich kann mich nicht fokussieren.“
„Das ist ganz normal, Champ.“ Der Trainer klopfte ihm auf die Schulter. „Was meinst du, wie es deinem Vater vor seinem Rekordkampf ging? Denkst du, er wäre so locker an die Sache ran gegangen?“
Ricky musterte den Trainer überrascht. Er kannte seinen Vater sehr gut, und er wusste, dass sein Trainer auch ihn trainiert hatte. Aber niemals konnte er sich seinen Vater, diesen stets ruhigen und ausgeglichen Mann, auch nur ansatzweise nervös oder aufgeregt vorstellen.
Der Trainer bemerkte seinen Blick und lachte. „Oh glaub mir, Champ, dein Vater war richtig nervös. Tage vorher hatte er mich schon angerufen und mir davon berichtet.“ Er seufzte, als er an die Zeit zurückdachte. „Das ist vollkommen normal. Du hast gleich einen Rekordkampf vor dir. Stell es dir einfach vor, wie du am Ende den Rekord deines Vaters einstellst.“ Er machte eine weit ausladende Geste mit seiner Hand. „Ricky „Rumble“ McKorny, Weltmeister im Schwergewicht. Siebenundvierzig Siege! Keine Niederlagen! Kein Unentschieden!“
Unwillkürlich musste Ricky grinsen. Sein Trainer schaffte es so gut wie immer, ihn zumindest zu motivieren. „Klar, das ist schon super, aber mein Gegner hat einiges auf dem Kasten. Und er ist größer als ich.“
„Papperlapapp! Na und? Dann ist er halt größer! Und was machst du dann, Champ? Richtig, du gehst nahe an ihn heran und lässt ihn seine Reichweite gar nicht erst ausspielen. So wie ich es dir gezeigt habe.“
„Nahe ran, Reichweite nicht ausspielen lassen“, wiederholte Ricky leise.
Der Trainer stand auf und sein lächeln deutete darauf hin, dass er zufrieden war mit seinem Champ. „Genau so, Junge. Und jetzt mach dich bereit, der Kampf geht gleich los. Dann steigst du in den Ring und holst dir diesen Titel und deinen verdienten Rekord. Und vergisst nicht, dein Vater schaut dir heute Abend auch zu.“
„Ihr habt miteinander gesprochen?“, fragte Ricky überrascht. „Ich dachte, er sei in Japan wegen wichtiger Geschäfte.“
„Ist er auch, aber für seinen alten Trainer hat man doch immer ein paar Minuten übrig, oder? Aber wir haben nicht nur miteinander gesprochen.“
Ricky beobachtete den Trainer, als dieser an einen Spind trat und ihn öffnete. Heraus holte er ein paar Boxhandschuhe, denen man ansah, dass sie schon einige Kämpfe mitgemacht hatten. Ricky aber verschlug es beinahe die Sprache.
„Die Handschuhe meines Vaters“, hauchte er und konnte noch immer nicht glauben, dass er sie gerade wirklich vor sich sah.
„Genau. Mit denen hat dein Vater seine Kämpfe bestritten. Und nun möchte er, dass du sie bekommst.“ Der Trainer überreichte Ricky die Handschuhe. „Ich habe sie übrigens prüfen lassen, es scheint alles in Ordnung zu sein. Da sie zugelassen sind, und wenn du es so willst, kannst du sie gleich benutzen.“
Als Ricky die Handschuhe entgegennahm, spürte er wie seine Nervosität verflog. Stattdessen machte sich Stolz in ihm breit und beflügelte ihn. Dass sein Vater ihm diese Ehre zuteilwerden ließ, machte ihn mehr als nur glücklich. „Natürlich werde ich sie benutzen!“
Der Trainer grinste und half ihm dabei, die Handschuhe anzuziehen. „Sehr gut, Champ! Dann mach dich bereit, es geht gleich los. Der Ring wartet auf dich!“
Mit diesen Worten verließ der Trainer die Umkleide und ließ Ricky alleine zurück.
Dieser schaute sie die Handschuhe weiter an, noch immer konnte er das alles nicht so recht glauben.
Schau gut zu Vater, heute werde ich deinen Rekord einstellen!
Dann hörte Ricky, wie der Abend eröffnet und der Kampf anmoderiert wurde. Als er gerufen wurde, war nichts mehr von der Nervosität zu spüren, die ihn vorher solche Sorgen gemacht hatte.