Kyle Burton schaltete den Motor seines Autos ab, welches er in einer dunklen Seitenstraße geparkt hatte und zog seinen schwarzen Hut etwas tiefer ins Gesicht.
Ein schneller Blick auf die Uhr verriet ihm, dass er noch ein paar Minuten Zeit hatte, bevor Anthony aufkreuzen würde. Also fuhr er die Autoscheibe etwas herunter, zündete sich eine Zigarette an und blies den Rauch in die dunkle Nacht hinaus.
Die Frage, ob er wirklich bereit war für das, was bald folgen würde, stellte er sich gar nicht mehr. Die letzten Zweifel hatte er während der Fahrt ausgemerzt.
Vor nicht allzu langer Zeit hatte er festgestellt, dass er sich einsam fühlte. Klar, die Menschen um ihn herum hatten ihn sein Leben lang nur ausgenutzt und schikaniert. Begonnen hatte es in der Schule, und sogar später in der Armee und bei den Spezialkräften hatte man ihm nicht den verdienten Respekt gezollt.
Als Resultat daraus hatte er sich von den Menschen abgewandt und Mauern um sein Herz hochgezogen. Er wollte keine Gefühle mehr zulassen, wollte sich an niemanden binden, der ihm etwas bedeutete.
Doch plötzlich war ihm klar geworden, dass ihm etwas fehlte. Er fühlte sich alleine, weil er zu keinem Team mehr gehörte. Denn auch, wenn man ihm nicht den nötigen Respekt gezollt hatte, war er es gewöhnt, Teil eines Teams zu sein. Besonders die Zeit in der Armee und bei den Spezialkräften hatte ihn dahingehend geprägt.
Doch ihm war klar, dass er es nicht aushalten würde, wieder unter Menschen zu sein. Denn so stark der Drang nach einer Zugehörigkeit war, so schwer fiel es ihm, Vertrauen zu seinesgleichen aufzubauen.
So kam ihm die zufällige Begegnung mit Anthony gerade recht.
Vor zwei Wochen hatte Kyle sich gerade seinen morgendlichen Kaffee holen wollen, als der junge Mann ihn angesprochen hatte. Es stellte sich heraus, dass Anthony nicht der unschuldige Mensch war, für den er sich ausgab, sondern zu einer Gruppe von Dämonen gehörte. Kyle hatte es selbst nicht geglaubt, bis Anthony ihm kurz sein wahres Gesicht gezeigt hatte. Es war nur ein ganz kurzer Augenblick, doch diesen Anblick würde er nie wieder vergessen. Das hatte Kyle sofort gewusst.
Danach hatte Anthony erzählt, dass er versuchte, Leute für „seine Sache“ zu gewinnen, die daraus bestand, den Dämonen einen Platz auf dieser Welt zu sichern, unter den Menschen. Doch dafür mussten diese Freiwilligen bereit sein, ebenfalls zu Dämonen zu werden und sich ihrer Sache anzuschließen.
Kyle war bewusst, dass das absoluter Irrsinn war. Doch er hatte nie an Dämonen geglaubt und plötzlich saß diese Kreatur im Körper eines Menschen von ihm und sprach ihn so unverblümt darauf an als würden sie sich über das Wetter unterhalten.
Natürlich hatte er erst einmal abgelehnt, was Anthony ihm nicht übel genommen hatte. Stattdessen hatte er Kyle einfach einen Zettel in die Hand gedrückt, auf dem eine Uhrzeit mitsamt Datum und ein Ort standen.
Und hier war er nun, nachdem er in seinem kleinen, dunklen Apartment über dieses Angebot ernsthaft nachgedacht hatte. Und er war zu dem Schluss gekommen, dass, so unmöglich und surreal das alles wirkte, es genau das war, was er jetzt brauchte.
Kurze Zeit später näherte sich Anthony im Rückspiegel und grüßte Kyle freundlich, als er sich gegen den Wagen lehnte.
„Wie ich sehe, hast du es dir nochmal überlegt. Das freut mich.“
Kyle zuckte die Schultern, stieg aus seinem Wagen aus und rückte seinen Mantel zurecht. „Ich habe nichts zu verlieren.“
„Das stimmt. Deshalb habe ich ja auch dich angesprochen.“ Anthony ging ein Stück zur Seite und streckte einen Arm aus. „Folge mir, ich bringe dich zu den anderen. Dann kann es auch gleich losgehen.“
Anthony übernahm die Führung und brachte Kyle zu einem unscheinbaren Haus in der Straße hinter der Gasse, in der Kyle das Auto geparkt hatte. Dort stiegen sie die Treppen zum Eingang hinauf und betraten das Gebäude.
„Du wohnst hier“, schloss Kyle.
Anthony nickte zur Bestätigung. „Richtig. Hier habe ich einen Unterschlupf gefunden, als ich aus der Unterwelt auf die Erde kam. Wir müssen runter in den Keller.“
Ohne weitere Worte zu verlieren, gingen die beiden zusammen in den Keller. Dort wurden Kyle und der Dämon bereits von weiteren Leuten erwartet.
Kyle zählte fünf weitere Personen im Raum, die alle unterschiedlicher nicht hätten sein können.
Es gab einen großen, stämmigen Mann, der neben einem schlanken Mädchen an der Wand lehnte, welches aussah, als würde sie noch zur High School gehen. Sie kaute hörbar auf einem Kaugummi herum. Auf der anderen Seite des Raumes stand ein älterer, etwas gebeugter Asiate und goss sich etwas Tee in eine kleine Schale. Neben ihm stand ein zierlicher Junge, der nicht viel Fleisch auf den Knochen hatte, und von dem sich Kyle sicher war, dass er beim nächsten Windstoß durchbrechen würde. Zum Schluss fiel Kyles Blick auf die ältere Frau, welche ihn mit ihren stechend grünen Augen anfunkelte.
„Das wird aber auch Zeit“, brummte der Bär und stieß sich von der Wand ab. „Ich hab schon gedacht, wir müssten hier versauern.“
„Nur keine Hektik“, warf der Asiate ein. „Wir sollten froh sein, dass sich jemand uns freiwillig anschließt, oder nicht?“
„Ich schlage vor, wir fangen einfach an“, mischte Anthony sich ein und deutete auf den Stuhl in der Mitte des Raumes, der wirkte, als habe der Dämon ihn seinem Zahnarzt gestohlen. „Kyle, setz dich bitte.“
Kyle zuckte mit den Schultern und setzte sich unter den forschenden Blicken der anderen auf den Stuhl.
Das Schulmädchen und die ältere Frau banden seine Handgelenke an dem Stuhl fest.
„He, was soll das werden“, brauste Kyle auf. „Ich bin freiwillig hier, schon vergessen?“
„Immer mit er Ruhe, Jungspund. Das ist zu deiner und unserer Sicherheit“, meldete sich der stämmige Mann zu Wort. „Die Verwandlung ist nicht ganz schmerzfrei, und wir wollen nicht, dass du dich oder jemanden von uns zerlegst dabei.“
Im selben Moment drehte sich Anthony zu ihm um. In der Hand hielt er eine Spritze, die mit einer roten Flüssigkeit gefüllt war. „Das ist mein Blut. Sobald es durch deine Adern fließt, wird dein Körper sich verändern. Deine menschliche Hülle wirst du behalten, damit du dich weiter an der Oberfläche bewegen kannst. Doch im Inneren, da wirst du einer von uns sein.“
„Gut.“ Kyle nickte. Er wollte, dass es endlich über die Bühne gebracht wurde, bevor ihm auffiel, was für ein Wahnsinn hier eigentlich gerade abging und er doch noch einen Rückzieher machte.
Anthony setzte die Nadel an und injizierte Kyle sein Blut. Erst schien es, als würde nichts passieren, doch dann schoss ein stechend heißer Schmerz durch Kyles gesamten Körper. Er fühlte sich, als würde er von innen heraus zerrissen werden. Er meinte zu spüren, wie jeder einzelne seiner Knochen zersplitterte und sich neu zusammensetzte, während ihm die Haut vom Körper gerissen wurde und sein blutiges Inneres zur Schau gestellt wurde.
Während dieser Höllenqualen blitzten die wahren Gesichter der Menschen um ihm herum auf. Grausame Dämonenfratzen, die er sonst nur aus irgendwelchen Filmen kannte. Doch sie waren real. So real wie die Schmerzen, die seinen Körper und Geist peinigten.
Nach einer gefühlten Ewigkeit ließen die Schmerzen langsam nach. Jeder Muskel fühlte sich verkrampft an, seine Fäuste waren so fest geschlossen, dass die Knöchel weiß hervortraten. Er zittert am gesamten Leib.
„Es ist vollbracht“, wisperte Anthony und holte einen Spiegel vom Tisch in der Ecke. „Bist du bereit, dein neues Ich zu sehen?“
Kyle nickte.
Anthony hielt ihm den Spiegel vor, und Kyle schaute in ein Gesicht, das nicht seines sein konnte. Die Haut war gräulich violett verfärbt, sein Schädel sah aus, als habe man ihn mit Macheten und Messern übel zugerichtet. Seine Nase fehlte komplett, nur zwei Löcher waren zu sehen. Die Lippen waren schmal und sahen abgestorben aus, während seine Ohren zwei kleine Knäule an den Seiten des unförmigen Schädels saßen.
„Wundervoll, oder?“, jauchzte das Schulmädchen begeistert. „Jetzt ist er einer von uns.“
Kyle erkannte, dass er einen schrecklichen Preis für das Gefühl der Zugehörigkeit gezahlt hatte. Doch er verspürte keine Reue, keine Angst. Er war nun wieder Teil eines Teams. „Ja. Wundervoll.“ Er grinste und wusste, dass sein Leben nun von Neuem beginnen würde.