Erschöpft stand Rena auf und wischte sich den Schweiß von der Stirn, während sie zufrieden auf ihre Arbeit hinabschaute. Die Blumen waren nun alle eingepflanzt und formten ein bunt gemischtes Beet. Dazwischen waren die Kräuter, die ihre Mutter zum Kochen verwendete oder brauchte, wenn es irgendwo an Medizin bedarf. Sie wusste, dass der Garten ihrer Eltern der schönste in der Stadt war, und darauf war sie stolz. Sie liebte die Natur und alles, was dazu gehörte.
Allgemein war es in der Stadt wundervoll bunt und friedlich. Jeden Tag erfreute sie sich auf dem Weg zur Schule – und danach natürlich auch – an der bunten Vielfalt der vielen Gärten. Natürlich schaute sie sich dabei auch ein paar Ideen ab und versuchte sie umzusetzen. Dabei freute sie sich, dass ihre Eltern ihr genug Vertrauen schenkten und sie somit frei im Garten arbeiten durften. Aber immerhin hatte sie dafür auch jahrelang von ihren Eltern alles gelernt.
Nur einen Fleck in der ganzen Stadt gab es, der das Gesamtbild störte; das Hügelgrab.
Einst wuchsen auf dem Hügelgrab die schönsten und seltensten Blumen des Landes. Reisende aus der ganzen Welt kamen in ihre Heimatstadt, um sich jährlich das Schauspiel der Blütenpracht anzuschauen, die Pflanzen zu untersuchen oder sogar mitzunehmen, denn das war nie verboten.
Doch irgendwer oder irgendwas hatte das Land vergiftet. Plötzlich wuchs dort keine einzige Blume mehr, keine Pflanze schlug mehr Wurzeln, und das Land wurde grau, trist und trostlos. Ein großer, toter Fleck inmitten einer bunten, lebendigen Stadt.
„Rena!“
Rena dachte gerade daran, wie schön es wäre, wenn auf dem Hügelgrab endlich wieder Leben entstehen würde, als sie die Stimme ihrer Freundin hinter sich hörte. Sie drehte sich um und sah Nissa an der Pforte zum Garten stehen und aufgeregt winken. „Rena! Du musst mitkommen! Schnell!“
„Was ist denn los?“ Rena ging zu Nissa und öffnete die Pforte, um ihre zappelige Freundin reinzulassen, doch diese packte Rena am Handgelenk und zog sie mit sich.
„Ich weiß nicht, aber irgendwas geht in der Stadt vor! Alle versammeln sich auf der Hauptstraße!“
„Ist denn irgendwas passiert?“ Rena machte sich langsam Sorgen. So kannte sie Nissa gar nicht, die eigentlich immer ruhig und gelassen war. Doch jetzt schien sie aufgeregt und aus der Ruhe gebracht.
„Wie gesagt, ich weiß es nicht. Aber ich will mir das anschauen, und du sollst dafür mitkommen.“
„Okay, okay, schon gut. Aber zerr doch nicht so an mir!“
Nissa ignorierte die Bitte ihrer Freundin und zog sie mit durch die Gassen der kleinen Seitenstraßen, bis sie an der Treppe ankamen, die hinunter in die Stadt zur Hauptstraße führte.
Rena konnte schon leises Stimmengewirr von vielen Menschen ausmachen, welches leise von unten zu ihnen hoch an ihre Ohren drang, und immer lauter wurde, je näher Nissa und sie der Menschenmenge kamen. Mittlerweile spürte auch Rena eine gewisse Aufregung, die vor allem aus ihrer Neugierde heraus entstand.
Unten angekommen standen sie inmitten einer gewaltigen Menschentraube. Es schien, als sei die gesamte Stadt an der Hauptstraße zusammengekommen, die geradewegs vom Stadttor aus zum Hügelgrab hinaus führte, vorbei an den Händlern, Fachwerkhäusern und dem Stadtzentrum.
Da Rena und Nissa kaum etwas sehen konnten, quetschten und drängelten sie sich durch die Menschenmasse nach vorne. Auf beiden Seiten der Straße standen die Einwohner und schauten nach oben in Richtung des Stadttores. Doch wohin Rena auch schaute, sie konnte nichts erkennen, dass den Aufruhr der Leute irgendwie hätte erklären können.
„Was ist denn nun, Nissa?“
„Ich weiß es nicht, aber alle starren auf das Stadttor. Moment, was ist das?“
Rena folgte dem Fingerzeig ihrer Freundin, und tatsächlich erschien im Stadttor eine zierliche Gestalt. Sie war zu weit weg, um sie richtig erkennen zu können, aber soweit Rena es erkennen konnte, musste es sich um ein Mädchen handeln.
Sicheren Schrittes ging das Mädchen durch das Tor und lief auf der Straße entlang. Es schien die Menschen zu allen Seiten nicht wahrzunehmen. Und falls doch, kümmerte sie sich nicht um sie.
In einigem Abstand konnte Rena weitere Menschen erkennen, die dem Mädchen folgten.
„Moment, das da vorne ist doch Regin, oder?“, fragte Nissa plötzlich ungläubig und deutete auf einen hochgewachsenen Jungen mit flachsblondem Haar, der aus der Masse hervorstach. „Was macht er hier? Er ist doch in Regenswalde bei seinen Großeltern zu besuch. Das ist zehn Meilen von hier entfernt!“
Rena wollte gerade antworten, als das Mädchen wieder in Sicht kam und Renas Gedanken in ihren Bann zog. So sehr Rena es versucht, sie konnte den Blick nicht von dem Mädchen abwenden.
Sie mustere das Mädchen. Ihrer Schätzung nach musste sie ungefähr sechzehn Sommer alt sein, wie Rena auch. Sie wirkte zierlich, verletzlich, beinahe wie eine ätherische Gestalt. Langes, weißes Haar floss einem Fluss gleich ihren schlanken Körper hinab über das schneeweiße Kleid. Es reichte beinahe bis zu ihren Füßen, welche kaum sichtbar in ebenso weißen Stiefeln steckten. Und dann waren dort noch ihre Augen. Schwarz wie die dunkelsten Schatten der Nacht stachen sie aus ihrem blassen Gesicht hervor und starrten geradeaus, ohne die Menschen um sie herum zu beachten.
Rena erschauderte kurz, als das Mädchen an ihr vorbei schritt. Hatte sie Rena gerade angeschaut?
Wie die anderen Menschen, an denen sie vorbeigekommen war, schloss auch Rena sich der Masse an und folgte dem Mädchen. Sie wusste nicht warum, doch sie hatte das nagende Verlangen, in ihrer Nähe zu sein; sie fühlte sich von ihr angezogen, ihre Gedanken kreisten einzig und allein nur um das Wesen vor ihr.
Nach einigen Minuten kamen sie alle am Hügelgrab an. Das zierliche Mädchen wirkte beinahe verloren vor dem großen, grauen Feld, auf dem einst die Blumen lebensfroh geblüht hatten.
Doch das schien sie nicht zu kümmern. Wie auf ein unausgesprochenes Wort blieben die Menschen vor dem Hügelgrab stehen, während das Mädchen langsam über das Feld ging. Durch ihre zierliche Gestalt sah es beinahe aus, als würde sie schweben, nicht einmal ihre Stiefel hinterließen Spuren auf dem ausgetrockneten Boden.
Als sie die Mitte des Feldes erreicht hatte, blieb das Mädchen stehen und ging in die Hocke. Rena beobachtet gebannt, wie sie ihre blassen Hände auf die Erde legte, ihre schlanken Finger in die Erde grub, wie sich ihr Mund bewegte und Worte formte, die keiner von den Menschen vor dem Grabhügel hören konnte.
Rena schien es, als ob jeder um sie herum, so wie sie selbst, gespannt den Atmen angehalten hatte. Jeder schaute auf das zierliche Mädchen, welches alleine auf dem Feld hockte und mit der Erde zu sprechen schien, und jeder schien etwas zu erwarten, was keiner in Worte fassen konnte.
Dann bewegte sich etwas unter den Füßen des Mädchens. Die Erde unter ihr schien aufzuwallen, sich von selbst umzugraben. Wo eben noch graue, tote Erde gelegen hatte, lag nun braune, feuchte Erde. Daraufhin folgte Gras, welches aus der Erde wuchs. Es strahlte in einem satten, gesunden Grün und breitete sich über das ganze Hügelgrab aus.
Ehrfurcht und Staunen vermischten sich in Rena, während sie ungläubig dem magischen Schauspiel folgte.
An einigen Stellen brach die Erde auf. Aus den Löchern erhoben sich kräftige, große Bäume, so schnell, als wären Jahrzehnte in wenigen Sekunden vergangen. Blumen, Gräser und Sträucher sprossen aus der Erde, erst klein und verwundbar, dann immer größer werdend.
Rena spürte, wie Tränen ihre Wangen herunterliefen, während sie sich verbat, den Blick zu lange auf eine Stelle gerichtet zu lassen, aus Sorge, etwas zu verpassen. Das Hügelgrab, welches eben noch vergiftet und tot vor ihr gelegen hatte, war nun wieder das lebensfrohe, blühende Feld, welches sie bis heute nur aus den Geschichten ihrer Eltern kannte. Sie sah Obstbäume, Akazien und Ginkobäume. Oleander, Hibiskus und Orchideen vermischten sich mit anderen Büschen voller Blüten und Blumen, deren frische Düfte durch die Luft wehten.
Ihre Augen richteten sich wieder auf das Mädchen, welches sich langsam erhob. Ihr Gesicht wirkte vor Anstrengung verzerrt. Sie strauchelte etwas beim Gehen. Rena wurde dabei klar, dass sie das erste Mal in ihrem Leben richtige Magie zu sehen bekommen hatte.
Erstaunt stellte sie fest, dass das Mädchen geradewegs auf sie zukam. Noch bevor sie nachdenken konnte, lief Rena ihr entgegen und fing sie auf. Sie war überrascht, wie leicht leicht sie war.
Langsam hob sie das Mädchen in ihre Arme und wendete sich der Menschenmenge zu, die noch immer wie gebannt am Rande des Hügelgrabs stand. Alle Augen waren auf sie gerichtet. Doch Rena bemerkte die Blicke kaum, ihre Gedanken waren noch immer von dem Mädchen in ihren Bann gezogen. Sie wusste, dass sie einen Platz brauchte, um sich auszuruhen. Als sie herunter schaute, sah sie, dass die Brust des Mädchens sich langsam hob und wieder senkte. Schweiß stand auf ihrer Stirn.
Rena entschloss sich, sie mit nach Hause zu nehmen. Die Retterin des Hügelgrabs hatte sich die Ruhe redlich verdient.