Nach dem Anruf ihrer Freundin war Kimberly eilig Zum Lager zurückgekehrt und hatte ihre Tasche geholt. Alles andere, darunter auch das sowieso kaputte Zelt, hatte sie zurückgelassen. Sie würde es eh nie wieder benötigen. Anschließend war sie mit dröhnenden Kopfschmerzen und schmerzenden Gliedern durch den Wald geirrt und hatte nur mithilfe der zahlreichen Hinweisschilder den Weg gefunden. Auf der Suche nach dem Ausgang hatte sie sich ein weiteres Mal in einen dichten Busch am Wegesrand übergeben. Sie fühlte sich elend und furchtbar müde.
So kenne ich sie gar nicht, dachte Kimberly über das merkwürdige Verhalten ihrer Freundin nach. Und was meinte sie damit, dass sie wüsste, was passiert wäre?
Am Ende kam sie zu dem Entschluss, dass sie nur dann Licht ins Dunkel bringen konnte, wenn sie in den schwarzen Wagen mit den getönten Scheiben einstieg, welcher wie versprochen am Ausgang auf sie wartete. Und Antworten zu erhalten hatte für sie oberste Priorität. Es gab zu viele offene Fragen, zu viel war vorgefallen und hatte ihr komplettes Leben auf den Kopf gestellt. Einen zu langen und fürchterlichen Albtraum, daran hatte sie sich die ganze Zeit geklammert, doch die Erschöpfung und der Schmerz waren real und zogen ihren Geist in ein dunkles Loch hinab. So wie alles andere, was sie an einem Tag hatte erleben und durchstehen müssen.
Kimberly hatte keine Ahnung, wie sie wirklich empfand. Innerhalb eines Tages hatte sie Dinge erlebt, die sie sich niemals hatte träumen lassen. Panik und Angst, Wut und Trauer, dazu diese bedrückende Ungewissheit. Gedankenverloren starrte sie aus dem Fenster und schaute sehnsüchtig auf die funkelnden Lichter der Stadt, der sie sich langsam näherten.
Endlich wieder Zivilisation, dachte sie und richtete ihre Augen auf die gespiegelte Scheibe, welche ihr den Blick nach vorne versperrte. Sie wusste nicht, wer ihr Fahrer war, der noch kein Wort mit ihr gewechselt hatte. Stattdessen sah sie ihr Spiegelbild. Die Blässe war zumindest ein wenig zurückgegangen, ihre Augen hatten wieder ihr normales Grün angenommen. Nur ihre Haare glichen noch immer einem zerstreuten Krähennest, dafür war die weiße Strähne verschwunden und hatte die von Haus aus dunkelbraune Farbe zurückerhalten.
Johanna hat keinen Grund, mir etwas anzutun. Oder? Dieser Gedanke erschütterte Kimberlys Vertrauen in ihre Freundin. Doch, natürlich hat sie den. Wenn sie wirklich weiß, was mit mir passiert ist, dann wird sie sicher alles in Bewegung setzen, um ihren Bruder zu beschützen. Egal, ob wir Freundinnen sind oder nicht.
Nervös rutschte sie in ihrem Sitz hin und her und wickelte sich in die weiche Decke ein, die auf dem Platz neben ihr lag. Eine beißende Kälte zog sich durch ihren Körper, was sie auf ihre Angst schob. Sie hoffte, dass die Decke ihr zumindest etwas Wärme und Geborgenheit zu spenden vermochte, denn die benötigte sie dringend.
Das Lichtwesen, welches sie zu dem sterbenden Mann – nein, der Bestie – geführt hatte, war seit dem Telefonat mit Johanna verschwunden. Sie konnte noch immer nicht sagen, um was für ein Wesen es sich handelte, und ob es ihr hatte helfen wollen.
Ein weiteres Rätsel. Als ob ich davon nicht schon genug hätte. Doch eines steht fest: Egal, was passieren wird, so einen dämlichen Ausflug werde ich nie wieder mitmachen.
Ein Blick auf das Smartphone zeigte ihr, dass mehr als eine Stunde vergangen war, bevor der Wagen am Straßenrand neben einem Einfamilienhaus hielt, welches eindeutig schon bessere Tage gesehen hatte. Die Farbe blätterte bereits an einigen Stellen ab, die Treppe zum Eingang sah morsch aus und das Dach wirkte undicht. Der spärliche Lichtschein der Straßenlaterne warf einen kalten Schein auf die Fassade und ließ das Haus gruselig und unnahbar wirken. Im Inneren brannte kein Licht.
„Viel Glück“, hörte Kimberly eine sanfte Frauenstimme beim Aussteigen hinter sich sagen. „Du sollst den Hintereingang nehmen.“
Kimberly drehte überrascht ihren Kopf, in der Hoffnung, einen Blick auf die Fahrerin zu erhaschen. Doch diese hatte die Scheibe wieder hochfahren lassen. Sie wurde jedoch das dumpfe Gefühl nicht los, rot glühende Augen in ihrem Augenwinkel wahrgenommen zu haben. „Ähm, danke“, murmelte sie und schloss die Autotür hinter sich.
Der Wagen setzte sich sofort in Bewegung und brauste die Straße hinab.
Kimberly stand nun ganz alleine vor dem unheimlichen Bauwerk. In den anderen Häusern brannte ebenfalls kein Licht. Keine Menschenseele, nicht einmal Hunde oder Katzen, die in der Innenstadt oft des Nachts auf der Suche nach Fressen und einem Platz zum Schlafen durch die Straßen steiften, waren zu sehen oder zu hören.
Wem das wohl gehört?, überlegte sie und öffnete behutsam das Zauntor, welches trotz aller Vorsicht ein ekelerregendes Quietschen von sich gab.
Kimberly kannte das Haus nicht. Sie wusste nur, dass Jannis und Johanna in der Innenstadt lebten. Dort hatten ihre Eltern sich ein luxuriöses Anwesen nahe eines Parks gebaut. Und selbst darin gab es Zimmer, die sie während ihrer beiden Besuche nicht hatte betreten dürfen. Vor allem um den Keller wurde ein großes Geheimnis gemacht.
Was meine Eltern wohl dazu sagen werden, wenn sie von ihrer Tagung in New York wieder zurückkommen? Meine Mutter wird durchdrehen, sobald sie sieht, wie meine Klamotten aussehen. Am besten lasse ich es sie gar nicht wissen. Vater hat Jannis und seine Eltern noch nie gemocht. Am Ende verbietet er mir noch den Kontakt mit den beiden. Andererseits, will Jannis mich denn überhaupt wiedersehen? Und wieso hat Johanna sich am Telefon so merkwürdig verhalten?
Kimberly betrat das Grundstück und umrundete wachsam das Haus. Für sie war es ein Gang ins Ungewisse. Sie konnte nicht sagen, was hinter der nächsten Ecke auf sie lauerte. Doch nach all dem zu schließen, was sie erlebt hatte, war es sicherlich die Bestie, die aus dem Grab auferstanden war und nun blutige Rache forderte. Der Gedanke ließ sie erschaudern und die Decke fester um sich ziehen, die sich aus dem Wagen mitgenommen hatte. Ein rascher Blick um die Hausecke zeigte ihr, dass sie sich umsonst Sorgen gemacht hatte.
Hinter dem Haus entdeckte sie einen stilvollen Garten, der nur vom silbrigen Mondlicht erleuchtet wurde. Verschiedene Kräuter wuchsen in gepflegten Beeten, ein kräftiger Baum stand am Rande des Grundstücks und trug frische Äpfel an seinen Ästen. Dazwischen zeigten sich Rosen und Narzissen, Petunien und Blaukissen sorgten für eine bunte Vielfalt.
Die Hintertür des Hauses wurde geöffnet, im Türspalt erschien Johannas vertrautes Gesicht. „Komm schnell rein“, flüsterte sie, als ob sie fürchtete, jemand könnte sie hören.
Kimberly folgte der Aufforderung und trat mit klopfendem Herzen ein. Als Johanna diese geschlossen hatte, konnte Kimberly sich nicht mehr zurückhalten und fiel ihrer Freundin in die Arme. Sie drückte sich an sie, suchte nach der Wärme und Geborgenheit, die die Decke aus dem Wagen ihr nicht hatte bieten können. Tränen der Erleichterung flossen ihre Wangen hinab, ihr Körper zitterte vor Aufregung. Ein verständliches Wort brachte sie nicht zustande, da sie immer wieder durch ihr eigenes Schluchzen unterbrochen wurde.
„Shh“, machte Johanna und streichelt ihr mit sanften, langsamen Bewegungen über den Rücken. „Jetzt ist alles gut. Komm, setz dich erst mal.“
An Johannas Tonfall erkannte Kimberly, dass sie ebenfalls erleichtert war. Widerstandslos ließ sie sich in ein beschaulich eingerichtetes Wohnzimmer führen. Mit dem Handrücken wischte sie sich die Tränen aus den Augen und sah Bücherregale aus dunklem Holz an den Wänden stehen, auf dem Boden war ein blutroter, weicher Teppich ausgelegt. Bilder zierten die ansonsten kahlen Stellen an der weiß tapezierten Wand. In der Mitte des Raumes befanden sich eine Couch und zwei gemütlich anmutende Sessel, die farblich auf die Einrichtung abgestimmt waren. Dazwischen stand ein bescheidener, runder Tisch, auf dem bereits eine Karaffe mit Wasser und zwei polierte Gläser warteten. Beleuchtet wurde der Raum durch einen kleinen Kronleuchter.
„Danke“, brachte Kimberly kurz angebunden heraus und ließ sich in einen der Sessel fallen. Aus einem ihr unerfindlichen Grund wollte sie niemanden neben sich haben, selbst ihre beste Freundin nicht, an deren Schulter sie sich eben noch ausgeweint hatte.
Johanna reichte ihr ein Taschentuch und goss etwas Wasser in die Gläser, dann setzte sie sich Kimberly gegenüber auf die Couch. „Geht es wieder?“
Kimberly nickte zögerlich und trocknete sich die Augen. „Ich denke schon, ja“, krächzte sie und nahm einen großzügigen Schluck aus dem Glas, um ihre ausgetrocknete Kehle zu befeuchten.
„Gut. Ich weiß, dass viel passiert ist, aber ich möchte, dass du mir berichtest, was da im Park vorgefallen ist. Von Anfang an.“
„Aber du hast doch gesagt, du weißt, was los war?“, fragte Kimberly irritiert. Die Anspannung, die eben abgefallen war, kehrte schlagartig zurück.
„Ich weiß.“ Johanna lächelt sanft. „Aber ich möchte es aus deinem Mund hören.“
„Wo ist Jannis?“, versuchte sie auszuweichen.
Doch Johanna schüttelte nur ihren Kopf. „Alles zu seiner Zeit. Erzähl.“
Kimberly stutze. Sie sah keinen Grund dafür, dass Johanna sie hinhalten sollte, doch das bestärkte nur die Sorge um ihren Freund. Also berichtete sie ausführlich von dem, was während des Ausflugs passiert war, in der Hoffnung, dass Johanna ihr danach endlich die Antworten geben würde, die sie suchte. Etwas in ihr verriet Kimberly, dass sie ihrer Freundin vertrauen schenken sollte. Bei ihrer Erzählung ließ sie keine Einzelheit aus, sondern weihte Johanna in alles ein, von Jannis‘ Idee von dem Campingausflug bis hin zum letzten Telefonat im Wald. Sogar ihre Verwandlung beschrieb sie, so gut sie konnte, als auch das Zusammentreffen mit der Bestie. Johanna unterbrach sie dabei kein einziges Mal und hörte Kimberlys Ausführung aufmerksam zu.
„Du musst mich für verrückt halten“, erkannte Kimberly niedergeschlagen, als sie in das ausdruckslose Gesicht ihrer Freundin schaute, nachdem sie ihr alles offenbart hatte. „Ich kann es dir nicht mal verübeln. Vielleicht bin ich das ja sogar?“ Nervös fuhrt sie sich mit den Fingern durch die zerzausten Haare. „Ich weiß es selbst nicht.“
„Nein, ganz und gar nicht“, antwortete Johanna und legte Kimberly eine Hand auf ihr Knie. „Ich glaube dir.“
Verwundert sah Kimberly auf. „Was? Warum? Niemand würde mir diese Geschichte glauben, wenn er oder sie nicht selbst dabei gewesen wäre!“
„Ich weiß. Aber ich glaube dir, eben weil ich schon einmal dabei gewesen bin.“
Der nachdrückliche Unterton verunsicherte Kimberly nur noch mehr. „Wie ... Wie meinst du das?“, hakte sie forschend nach.
Johanna sah sich suchend um und seufzte dann. „Ich hätte nicht gedacht, dass ich dich so früh und unter diesen Umständen einweihen muss, aber mir bleibt wohl keine andere Wahl.“ Damit stand sie auf und verließ den Raum. „Ich bin gleich wieder da!“
Kimberly war es nicht möglich, das Verhalten ihrer Freundin richtig einordnen. Was hat das bloß alles zu bedeuten? Sie nahm sich noch etwas Wasser und trank es gierig. Doch aus irgendeinem Grund gelang es ihr nicht, ihren immer größer werdenden Durst zu stillen.
Eine weitere Erkenntnis bereitete ihr Sorgen: Sie spürte eine Art Vertrautheit zu Johanna, die sie vorher so nie wahrgenommen hatte. Die stand im kompletten Gegensatz zu dem Misstrauen, welches sie durch das merkwürdige Verhalten ihrer Freundin gegenüber aufgebaut hatte. Doch gleichzeitig verlangte etwas in ihr, dass sie Johanna vertraute, drängte sie förmlich dazu.
Etwa der Dämon in mir? Ein kalter Schauer fuhr Kimberly über den Rücken. Aber was könnte er von ihr wollen?
In diesem Moment betrat Johanna den Raum und balancierte ein Tablett in beiden Händen.
Kimberly keuchte erschrocken auf, sprang aus dem Sessel und versteckte sich hinter diesem, als sie in das Gesicht ihrer besten Freundin sah. Ihre Haare, die eben noch dunkelblond im Licht des Kronleuchters geglänzt hatten, waren nun schneeweiß! Johannas Haut war kreidebleich geworden und betonte die rot gefärbten Lippen deutlich. Die hellblauen Augen starrten sie nunmehr blutrot an. Kimberly hatte das Gefühl, sie bohrten sich bis zu ihrer Seele hindurch, und war nicht in der Lage, den Blick abwenden, so sehr sie es auch versuchte.
„Du musst keine Angst haben“, sagte Johanna, deren Stimme sich ebenfalls verändert hatte. Klang sie gerade eben noch weich und einfühlsam, besaß sie jetzt eine auffällige Härte und Erhabenheit. Sie räusperte sich, um etwas von der Weichheit in ihrer Stimme zurückzuerlangen. „Verzeih, ich habe schon lange nicht mehr in dieser Gestalt gesprochen.“
„Was bist du?“, verlangte Kimberly mit schriller Stimme zu wissen. Ihr Herz pochte kräftig in ihrer Brust, ihr Körper zitterte und ihr Verstand weigerte sich, zu glauben, was sie gerade gesehen hatte. Sie hörte, wie Johanna das Tablett auf dem kleinen Tisch abstellte.
„Wenn du hinter dem Sessel hervorkommst, kann ich es dir erklären.“
„V-Vergiss es!“ Ihre Blicke huschten auf der Suche nach einer Fluchtmöglichkeit durch den Raum, doch der einzige Weg schien ein gewagter Sprung durch das Fenster zu sein. Johanna stand ihr und der Hintertür im Weg.
„Ich weiß, dass du durstig bist.“
Diese Worte erzielten bei Kimberly eine ungeahnte Wirkung. Sie schienen bis in ihre Gedanken vorzudringen, lullten sie förmlich ein und lockten sie mit einem stummen Versprechen hinter dem Sessel hervor. Ohne, dass sie sich erinnern konnte, aufgestanden zu sein, stand sie der Dämonin gegenüber.
„Setz dich wieder.“
Kimberly hatte den einnehmenden Worten nichts entgegenzusetzen und setzte sich wieder in den Sessel. Erst dann wurde ihr Geist wieder klar. „Was ... Was ist passiert?“
„Es tut mir leid, dass ich davon gebrauch machen musste. Aber es ist wirklich einfacher, dir alles zu erklären, wenn wir uns gegenübersitzen.“
Kimberly fühlte weiterhin die Angst in sich wüten, doch etwas anderes schien diese zu unterdrücken. Sie war nicht in der Lage es zu beschreiben, aber es reichte aus, um sie nicht erneut die Flucht ergreifen zu lassen. „Sag mir, was hier vor sich geht. Was du bist?“, verlangte sie mit zittriger Stimme, mied aber den eisigen Blick der blutroten Augen.
„Was wir sind“, verbesserte Johanna und setzte sich ebenfalls wieder. „Du und ich, wir sind gleich.“
„Und was sind wir?“
„Vampire“, lautete die trockene Antwort.
Diese kam so überraschend, dass Kimberlys Verstand Probleme hatte, sie zu verarbeiten. „Das meinst du nicht ernst“, lachte sie nervös und schaute ihr nun doch in die Augen. „Vampire gibt es nicht.“
„Nur, weil du etwas nicht siehst, heißt es nicht, dass es nicht existiert. Aber um dich direkt zu überzeugen, nimm doch einen Schluck.“ Sie deutete auf die beiden Becher, die vor Kimberly auf dem Tablett standen.
„Was ist da drin?“
„In dem linken Becher ist normales Wasser. In dem Rechten ist das Blut eines Menschen“, antwortete sie unumwunden.
Ich werde sicher kein Menschenblut trinken!, dachte Kimberly erschrocken und griff überzeugt zu dem Becher mit dem Wasser. Doch bevor sich ihre Finger um das Gefäß schlossen, stockte sie plötzlich. Die Kraft, die sich schon zwei Mal in ihr geregt hatte, begann tief in ihr zu brodeln. Schweiß trat aus ihrer Stirn, als der verführerisch metallische Duft des Blutes in ihre Nase stieg und sie förmlich anlockte. Mit aller Kraft kämpfte sie gegen den Drang an, wollte die Finger um den Becher mit dem Wasser schließen. Doch das Verlangen wurde zu groß, die Lust, das Menschenblut zu trinken und endlich diesen unstillbaren Durst zu löschen, war zu mächtig. Ihr Arm schwang herum, ihre Finger griffen den Becher und hoben zu ihrem Mund. Gierig trank sie, genoss den kupferartigen Geschmack und das warme Gefühl, welches ihre Kehle herunterrann. Gleichzeitig fühlte sie sich furchtbar und verabscheute sich dafür, dem Monstrum in ihr nachgeben zu haben.
Dieses jedoch freute sich, verlangte gierig nach mehr, bis Kimberly den ganzen Becher leer getrunken hatte.
Johanna wartete geduldig und reichte ihr dann einen Spiegel. „Sieh selbst.“
Kimberly schaute in den Spiegel und erkannte voller Entsetzen wieder den Dämon mit der weißen Haarsträhne und den glühend roten Augen.
„Glaubst du mir jetzt?“, fragte Johanna forschend. „Ich weiß, es ist nicht leicht, das zu verarbeiten, aber du bist nicht alleine.“
Kimberly wusste nicht, was sie erwidern sollte. Sie war sich nicht einmal sicher, ob sie glauben konnte, was sie da vor sich sah. Ihre Gedanken rasten, ihr war gleichzeitig heiß und kalt. Ihre zerfetzte Kleidung, versteckt unter der Decke, fühlte sich wie ein Gefängnis an, sie hatte Probleme, Luft zu bekommen. So sehr sie sich um einen klaren Verstand bemühte, die Worte „Dämon“ und „Vampir“ kreisten in ihrem Kopf und verhindern, dass sie einen Gedanken fassen konnte. „Das kann nicht sein. Nein! Das ist unmöglich!“, rief sie voller Furcht und Schrecken, und war doch unfähig, den Blick vom Spiegel abzuwenden.
Johanna stand auf und zog ihre völlig verschreckte Freundin in ihre Arme.
„Was war das für ein Wesen, welches Jannis im Wald angegriffen hat?“, fragte Kimberly mit zittriger Stimme, nachdem sie sich vom Anblick ihres neuen Ichs ein wenig erholt hatte.
„Das war ein Wandelwesen. Deiner Beschreibung nach ein ganz spezielles Exemplar.“ Johanna ließ ihre Freundin wieder in den Sessel sinken.
„Es sah aus wie eine Mischung aus Bär und Wolf“, rief sie sich den schaurigen Anblick der Bestie selbst in Erinnerung.
Johanna überlegte. „Wandelwesen gibt es in vielen verschiedenen Formen. Am bekanntesten sind die Werwölfe. Die kommen in vielen Geschichten vor. Aber überall auf der Welt gibt es unterschiedlichste Arten. In Ägypten gibt es sogar Werschakale. In Afrika sind es Werlöwen und Werpanter. Aber dein Exemplar muss einen Werwolf und einen Werbären als Erzeuger gehabt haben.“
Kimberly hörte den Ausführungen ihrer Freundin nur halbherzig zu, sie war zu sehr damit beschäftigt, zu verarbeiten, dass sie angeblich zu irgendwelchen Gestalten zählen sollte, die man nur aus Geschichten und Sagen kannte. Gruselgeschichten, die man sich am Lagerfeuer erzählte. Sie fühlte sich, als ob jemand oder etwas sich mit ihr einen Spaß erlaubte, der sie an den Rand des Wahnsinns beförderte. Ihr wurde der Boden unter den Füßen weggezogen, und sie musste machtlos zusehen, wie sie in einen wirren Strudel gezogen wurde, der ihre Welt zerbrach.
Auf der anderen Seite konnte sie kaum leugnen, dass das Blut ihr geholfen hatte. Der brennende Durst, den sie seit Stunden verspürt hatte und der sich immer wieder in den Vordergrund gedrängelt hatte, war verschwunden. Der Dämon – oder der Vampir? – hatte sich verzogen und Kimberlys Verstand freigegeben. Anscheinend war er für den Moment gesättigt.
„Aber wieso ich?“, fragte sie aus einem Impuls heraus. „Wieso habe ich einen Vampir in mir?“
„Er ist nicht in dir. Du bist noch immer du, teilst dir aber deine Seele mit einem Vampir.“ Sie stockte kurz und suchte nach den richtigen Worten. „Es ist schwer zu erklären, glaube mir. Lass es mich anders versuchen. Hast du irgendwas gespürt, als du das Wandelwesen angegriffen hast?“
„Hass, einen brennenden, tiefen Hass. Und pure Abscheu. Ich hatte das Verlangen, das Biest auf der Stelle zu töten.“
Johanna nickte. „Dann kommt dein Vampir aus einer Zeit, in der noch Krieg zwischen den Vampiren und Wandelwesen herrschte. Das liegt viele Jahrhunderte zurück. Damals haben die Wandelwesen den Vampiren ihr Territorium streitig gemacht. Da keine der beiden Parteien nachgeben wollte, kam es unweigerlich zum Krieg.“ Johanna machte eine kurze Pause, um sicherzugehen, dass Kimberly zuhörte. „In dieser Zeit kamen die Vampire an den Rand ihrer Existenz. Sie hatten ihren Feind schlichtweg unterschätzt. So sahen sich die Reinblüter – Vampire, die ebenfalls nur Vampire als Vorfahren und Erzeuger haben – sich gezwungen, Menschen als Partner zu nehmen und sich mit ihnen zu fortzupflanzen.“
Langsam begann Kimberly zu verstehen. „Und deren Kinder waren eine Mischung aus Vampiren und Menschen“, schloss sie aus der Erklärung. „So was wie ich? Wie wir?“
„Ja. Doch im Gegensatz zu meinem liegt deinem Vampir der Hass auf die Wandelwesen in den Genen. Und nicht alle Nachfahren teilen sich ihre Seele mit einem Vampir.“
„Meine Eltern?“, fragte Kimberly voller Sorge. „Sind sie auch wie ich?“
Johanna schüttelte den Kopf. „Deine Eltern sind ganz normale Menschen. Der Ursprung deines Vampirs muss irgendwo anders in deinem Stammbaum liegen. Aber das zu verfolgen ist beinahe unmöglich. Wichtig ist nur, dass du lernst, wie du deinen Vampir bändigen und kontrolliert einsetzen kannst.“
„Einsetzen?!“, rief sie fassungslos. „Ich will ihn nicht einsetzen, ich will ihn loswerden!“ Kimberly hatte nicht vor, sich mit dem Dämon in ihr zu verbünden.
„Das ist unmöglich. Aber es gibt Wege, ihn ruhigzustellen und mit ihm zu kommunizieren.“
„Mit ihm sprechen?“ Kimberly erinnerte sich an die Laute zurück, die der Vampir in ihr von sich gegeben hatte, als die gegen seine Kontrolle angekämpft hatte, um mit der sterben Bestie am Bach zu sprechen. Das alles erschien ihr schon so lange her, dabei war es erst vor ein paar Stunden passiert. „Mein Vampir gibt nur wilde Laute von sich.“
„Er spricht eine alte Sprache, die längst ausgestorben ist. Aber ich werde sie dir beibringen.“
„Warum? Kann ich ihn mir nicht einfach austreiben lassen?“
„Du meinst mit einem Exorzisten?“, fragte Johanna mit einem schiefen Lächeln. „Du weißt schon, dass es so was nicht gibt?“
„Das hab ich von Vampiren und Werwölfen auch gedacht“, hielt sie barsch dagegen. Ihr war nicht nach Scherzen zumute. „Aber wieso sollte ich mich mit ihm verbünden?“
„Weil du ein Wandelwesen ausgelöscht hast“, sagte Johanna spürbar zögerlich. „Das wird nicht unbemerkt bleiben. Wandelwesen erkennen, ob einer der ihren durch Zufall, von einem Menschen oder durch einen Vampir getötet wurde.“ Sie schaute Kimberly eindringlich an. „Vor vier Jahrzehnten ist es beiden Parteien nach langen Verhandlungen endlich gelungen, einen brüchigen Frieden auf die Beine zu stellen. Kurz gesagt steht darin, dass Vampire sich von den Gebieten der Wandelwesen fernhalten und umgekehrt. Doch jetzt, wo einer der ihren durch die Hand eines Vampirs starb, steuern wir unweigerlich auf den nächsten Konflikt zu.“
„Aber das wollte ich nicht!“, verteidigte Kimberly sich. „Ich hatte gar keine Kontrolle darüber!“
„Das wird sie nicht interessieren. Und bevor du zu Schaden kommst oder unverschuldet noch mehr Schaden anrichtest, werde ich dich lehren, den Vampir in dir zu bändigen.“
Kimberly wurde es eindeutig zu viel. Die dröhnenden Kopfschmerzen meldeten sich wieder, leise stöhnend rieb sie sich die Schläfen. Sie hatte nun Antworten bekommen und ihr war von Anfang an klar gewesen, dass sie ihr nicht gefallen würden. Doch erst rettete sie ihren Freund aus den Fängen eines Monsters und jetzt sollte sie ein Halbvampir sein und einen Krieg heraufbeschworen haben? „Wo ist Jannis?“, wiederholte sie die Frage vom Beginn der Unterhaltung und schaute Johanna auffordernd an. „Weiß er von ‚uns‘?“
„Er kennt die gängigsten Geschichten über Vampire und Werwölfe, doch er tut sie als Ammenmärchen ab. Jannis stürzt sich lieber auf die viel realistischer erscheinenden Heldengeschichten seiner Urgroßväter, wie du ja schon bemerkt hast. Die waren im Übrigen ebenfalls Vampire, aber meine Eltern haben beschlossen, ihn mit dem Wissen zu verschonen.“
„Ich will ihn sehen“, verlangte sie.
„Das wirst du. Aber erst, wenn du deine Kräfte kontrollieren kannst. Gnädigerweise kam er völlig aufgelöst zu mir und ich habe vom Rat die Erlaubnis bekommen, bei ihm den ‚Reset‘ anzuwenden.“
„Warte, Moment. Was ist der Rat? Und was bedeutet dieser ‚Reset‘?“
„Das erkläre ich dir später. Sei versichert, dass er sich an nichts mehr erinnern kann. Ich habe ihm gesagt, du seist mit deinen Eltern nach New York gereist. Er wartet auf dich, und ich will dafür sorgen, dass du ihn nicht wieder in Gefahr bringst.“ Ihr Gesicht verhärtete sich etwas, während sie diese Worte aussprach. „Jetzt gehst du erst mal baden und dann wirst du schlafen. Ich habe dir ein Zimmer und frische Kleidung vorbereitet. Morgen erkläre ich dir alles weitere.“
Kimberly war sich bewusst, dass es keinen Sinn hatte, gegen ihre Freundin anzugehen. Sie wusste, wovon sie sprach, und sie konnte Johanna vertrauen. Zumindest glaubte sie das, nachdem Johanna ihr nun so viel über sich und die Wandelwesen erzählt hatte. „In Ordnung“, sagte sie und fühlte die Müdigkeit über sich hineinbrechen.
Ein frisches Bad und etwas Schlaf werden mir sicherlich gut tun.
Ohne ein weiteres Wort führte Johanna die junge Vampirin zum Bad.
Was auch immer nun kommen mag, dachte Kimberly für sich, mein Leben hat gerade einen ganz neuen Weg eingeschlagen.