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Stresa rannte voller Sorge und Wut durch den Wald. Dabei hielt sie sich die Arme vor das Gesicht, um nicht von den Ästen geschnitten zu werden, die ihr während der Hatz entgegen peitschten.
Siniel, du Idiot! Was hast du dir nur dabei gedacht?
Ein kurzer Blick zum Himmel reichte aus, um ihr zu zeigen, dass der Tag sich langsam dem Ende entgegen neigte. Wenn es erst einmal dunkel war, wäre es vollkommen unmöglich, Siniels Spuren zu folgen, die er bei seiner Flucht aus dem Turm der Magier hinterlassen hatte. Zusätzlich zogen sich dichte Wolken zusammen und kündeten eine regnerische Nacht an. Der Regen würde dann auch die restlichen Spuren ihres Freundes wegspülen. So würde sie Siniel niemals vor den Magiern erreichen, die sicherlich bald zur Jagd ausrücken würden.
Die Dämonen!, durchzuckte sie plötzlich der Gedanke an die magischen Wesen. Vor lauter Sorge um Siniel hatte sie die Biester, die nachts Jagd auf alles Lebendige machten, beinahe vergessen. Ich muss mich beeilen!
So schnell sie konnte folgte sie den Spuren und rannte den Pfad aus abgebrochenen Zweigen und zertrampeltem Laub entlang. Zwischendurch entdeckte sie Orte, an denen Siniel gestürzt sein musste. Anscheinend hatte er keinen großen Wert auf seine eigene Sicherheit gelegt, während er durch den Wald gehetzt war.
Ich hätte wissen müssen, dass irgendwas mit ihm nicht stimmt.
Außerstande, noch weiterzulaufen, stützte sie sich an einen massiven Baum und versuchte, zu Atmen zu kommen. Der Schweiß rann ihr aus allen Poren, ließ die Kleidung an ihrem Körper kleben, während ihr Atem nur mit einem Keuchen ihre Lungen verließ.
Wie lange sie schon durch den Wald lief, konnte sie nicht sagen. Aber es war nur wenige Stunden her, seit sie vor dem hohen Rat der Magier gestanden hatte und sich einem Verhör unterziehen msste.
Erst wollte sie nicht glauben, was die Magier ihr über Siniel erzählten. Der Rat eröffnete ihr, dass Siniel einen anderen Magier ermordet haben sollte. Natürlich hatte sie das abgestritten und dem Rat erklärt, dass Siniel so etwas niemals tun würde, doch als sie ihr einen unwiderlegbaren Beweis zeigten, musste selbst Stresa sich eingestehen, dass auch sie Veränderungen an ihrem Freund festgestellt hatte.
Dieser Beweis war ein magisches Echo, eine Art Erinnerung, welche aus einem beliebigen Raum oder Objekt gezogen werden konnte. Einer der Magier hatte das Gewölbe zwei Wochen nach dem vermeintlichen Unfall noch einmal genauer untersucht und war dabei auf dieses Echo gestoßen, welches Siniel mit dem Artefakt in der Hand zeigte. Sie musste mit anschauen, wie der Meister Siniel aufzuhalten versuchte und von einer magischen Kraft, die eindeutig von ihrem Freund ausging, in Asche verwandelt wurde.
Der Schreck über das, was sie mit ansehen musste, saß noch immer tief in ihren Knochen. Ein kleiner Teil in ihr sträubte sich noch immer gegen die Einsicht, dass Siniel nicht mehr der war, den sie gekannt hatte.
Sie war zusammen mit ihm im Turm der Magier aufgewachsen und hatten viel Zeit miteinander verbracht. Doch in den letzten zwei Wochen hatte er sich immer weiter zurückgezogen, auch von ihr.
Sie hasste sich dafür, dass sie das so mitnahm. Er war doch einfach nur ein guter Freund.
Oder war er vielleicht doch mehr?
Der Gedanke nagte immer wieder an ihr. Stresa wollte es sich nicht eingestehen, aber sie wusste, dass sie mehr für ihn empfand. Nur hatte sie es sich nie getraut, es ihm auch zu sagen. Vielleicht aus Angst, dass sie damit die Freundschaft zerstört hätte, oder dass er sie dafür ausgelacht hätte.
Stresa fühlte die Wut in ihrem Geist brodeln. Wut auf sich, dass sie die Anzeichen nicht früher erkannt hatte. Dass sie ihn nicht einfach gefragt hatte, was er die ganze Zeit in seinem kleinen Geheimlabor in seinem Zimmer machte, von dem selbst die Lehrer nichts wussten.
Und Wut auf Siniel, dass er sich so leichtfertig auf fremde Magie eingelassen hatte und nun diesen ganzen Ärger am Hals hatte. Und dass er sie schließlich, wenn vielleicht auch ungewollt, mit hineingezogen hatte.
Das alles hatte sie schließlich auch dem Rat erzählt. Auch von dem Artefakt, dem kleinen Ring, den er ständig an einer Kette um den Hals trug, versteckt unter seiner weiten Robe. Natürlich hatte sie nicht gewusst, dass es sich dabei um ein magisches Artefakt handelte. Siniel hatte ihr erzählt, dass das ein wichtiges Erbstück gewesen sei.
Die Magier hatten sich schnell dazu entschlossen, die „Jäger“ mit der Aufgabe zu betrauen, Siniel aufzuspüren und das Artefakt zu bergen.
Siniel selbst musste irgendwie mitbekommen haben, dass die Magier seine Lüge nun durchschaut hatte, denn nach dem Verhör hatte Stresa ihn nirgendwo im Turm mehr finden können. Also hatte sie beschlossen, sich selbst auf die Suche nach ihm zu machen, in der Hoffnung, ihn zur Rückkehr überreden zu können. Wenn er sich freiwillig stellt, wird sicher wieder alles gut.
Stresa wurde ganz klamm ums Herz, wenn sie daran dachte, was diese Jäger mit Siniel machen würden, wenn dieser sich weigerte, sie zum Turm zurückzubegleiten. Die Jäger waren nicht für ihre mitfühlende Art bekannt, sondern dafür, jeden Auftrag mit allen nötigen Mitteln zu erfüllen. Und ihr Auftrag war das Artefakt, nicht Siniel.
Die ersten Regentropfen rissen sie aus den Gedanken und holten sie zurück in die Wirklichkeit.
Erschrocken schaute sie zum Himmel hinauf und stellte fest, dass die Sonne schon beinahe ganz verschwunden war. Die Wolken hatten sich verdichtet und der Regen setzte nun langsam ein.
Ich muss mich zusammenreißen. Verdammt, ich muss ihn finden!