Ila drückte sich so stark sie konnte gegen die Felskante.
Bloß nicht runter schauen, bloß nicht runterschauen, wiederholte sie, ähnlich einem Mantra, immer wieder in ihren Gedanken. Doch so sehr sie sich auch darauf konzentrierte, richtete ihr Blick sich doch immer wieder nach unten.
Dort breitete sich die Höhle aus, in der die Kultisten ihre finsteren Rituale abhielten und ihre dämonischen Götter beschworen. Einer Stadt gleich reihten provisorische, aus Lehm und Steinen gebaute Häuser mit alten, fleckigen Zelten aneinander. Zwischen diesen Behausungen herrschte Bewegung. Die Kultisten, Leute in dunklen Kutten und mit von Kapuzen bedeckten Gesichtern, schlichen auf den steinigen Wegen entlang, hielten ihre Köpfe gesenkt und murmelten ohne Unterlass in einer Sprache, die Ila nicht verstand.
Doch das Mädchen wusste, dass dies dort unten keine Menschen waren. Sie wollte es erst nicht glauben, doch nachdem die Fenyiel-Hexe aus dem wilden Wald ihr die Gabe des „Sehens“ verliehen hatte, sah sie die schreckliche Wahrheit vor sich.
Während die Menschen noch darum kämpften, dass die Dämonen in ihrer Welt eingeschlossen blieben und niemals einen Weg in das Reich der Menschen fanden, waren diese schrecklichen Wesen längst unter ihnen. In Form von ganz normalen, unauffälligen Menschen.
Niemand außer Ryden vermochte zu verstehen, wie schlimm es um die Welt der Menschen stand. Doch da Ryden aus dem Zirkel der Magiewirkenden verstoßen war und das Brandzeichen einer Verräterin trug, würde niemand ihr jemals Glauben schenken.
Ila schluckte, als sich ihre Gedanken auf ihre Freunde in der Heimat richteten.
Ob sich unter ihnen auch Dämonen versteckt halten?
Dieser Gedanke ließ eine Angst in ihr aufleben, die ihr Herz mit einem eisigen Griff umklammerte und ihr die Konzentration zu rauben drohte. Nur durch ihr letztes bisschen Willenskraft schaffte sie es, diese schrecklichen Gedanken aus ihrem Kopf zu verdrängen und ihren Halt wiederzufinden.
Während sie sich weiter an der Wand entlangtastete, spürte sie, wie ihre Nerven zu zerreißen drohten. Sie wollte gar nicht daran denken, was passieren würde, sollte sie den Halt verlieren und dort hinunterfallen. Selbst wenn sie den Sturz durch ein Wunder überleben sollte, gäbe es für sie keine Möglichkeit zur Flucht.
Ich wäre gefangen mit den Monstern.
Erneut schaute sie hinab und sah die wahren Gestalten der Kultisten. Scheußliche Dämonen, ein jeder von ihnen in einer anderen Form. Manche waren klein und flink, während andere von ihnen groß und kräftig waren. Einige waren von buckliger Haltung, andere krochen auf allen Vieren, während sie alle zischten und hissten. Die Laute drangen leise an ihr Ohr und in ihren Kopf, ließen sie erzittern, während die feinen Härchen in ihrem Nacken sich aufstellten. Schnauzen und Reißzähne sowie tiefschwarze Augen blitzten im Licht der Fackeln auf.
Sie würden mich an ihre abstrusen Götter opfern und sie damit stärker machen. Das darf ich nicht zulassen!
Sie atmete tief ein und tastete sich langsam und vorsichtig weiter an der Wand entlang.
Ryders Plan war mehr als waghalsig, doch war es der einzige Weg, die Dämonen aufzuhalten, wenn man den Worten der Magierin Glauben schenken wollte.
Die Frau hatte Ila nach ihrem Kennenlernen im Versteck der Rebellen erzählt, dass die Dämonen alte Schriften besaßen, in denen geschrieben stand, wie die Götter dieser Kreaturen in das Reich der Menschen eindringen konnten. Wenn sie diese Schriften in die Finger bekämen, wäre es Ryder möglich, herauszufinden, wie die Menschen dem Vormarsch ihrer Feinde ein Ende setzen konnten. Doch dafür war es nötig, dass jemand in das innerste Heilige der Dämonen eindrang und die Schriften an sich nahm.
Da Ila als Diebin mehr als genug Erfahrung auf der Straße hatte sammeln können, war sie dafür auserwählt worden. Anfangs war sie begeistert gewesen. Sie konnte helfen die Menschheit zu retten und sollte dafür genau das machen, was sie am besten konnte.
Ich war wohl ein wenig übereifrig, fürchte ich.
Als Ila die Kreaturen durch die Gabe des „Sehens“ das erste Mal vor sich gesehen hatte, hatte sie sofort bemerkt, dass diese Aufgabe einem Selbstmord glich. Es war etwas anderes, Menschen auf der Straße um ihre Geldbörsen zu erleichtern, als sich mit Monstern aus einer anderen Welt anzulegen.
Doch nun war es zu spät, um es sich anders zu überlegen. Sie hatte ihre Aufgabe akzeptiert und befand sich mitten unter ihren Feinden. Alles, was ihr blieb, war auf sich und ihre Fähigkeiten zu vertrauen. Das, und darauf, dass keine der Kreaturen zufällig nach oben schaute und sie entdeckte.
Natürlich hatten sie einen Ausweichplan, der vorsah, dass Ryder mit einigen der Rebellen zusammen die Höhle stürmen würde, sollte Ila es nicht wie geplant schaffen. Doch in Anbetracht der Überzahl ihrer Feinde kam es Ila unmöglich vor, diesen Angriff zu überleben.
Als das Mädchen auf der anderen Seite des Abhangs ankam, versteckte sie sich schnell hinter einem der zahlreichen Felsen.
Ila schüttelte bei dem Gedanken an einen möglichen Kampf den Kopf. Die Rebellen waren ein kleiner Haufen Aufständischer, der sich zusammengeschlossen hatte, nachdem sie herausgefunden hatten, dass die Regierungen der Länder mit den Dämonen einen Pakt geschlossen hatten. Laut Ryder war es den Königen egal, wie viele Menschen dem Angriff der Dämonen zum Opfer fielen, solange sie selbst weiter leben und regieren durften. Natürlich im Sinne der Monster. Und das alles, während die Magier ihre Augen vor dem Offensichtlichen verschlossen. Alle bis auf Ryder.
Ich muss ihr vertrauen. Was für eine Wahl habe ich denn noch?
Ila hatte Zweifel an alle dem, weil sie nur durch Zufall auf die Rebellen gestoßen war, nachdem sie versucht hatte, sich an dem Falschen zu bereichern. Ewas - so der Name des Mannes - entpuppte sich als Anführer der Rebellen und hatte sie vor die Wahl gestellt; entweder sie verlor eine Hand als Strafe für den Diebstahl, oder sie schloss sich seiner Sache an. Doch wie konnte sie mit vollen Herzen an eine Sache glauben, zu der sie durch ihre eigene Dummheit gezwungen war?
Hör auf, daran zu denken!, ermahnte sie sich selbst in Gedanken. Die Menschheit steht am Abgrund. Und wenn das, was ich hier mache, den Menschen helfen kann, sollte das schon Grund genug sein, daran zu glauben.
Sie spähte vorsichtig über den Felsen und sah in ungefähr fünfzig Metern Entfernung ihr Ziel. Dunkel und Unheil verkündend ragte die Kapelle auf, in der sich die Schriften der Dämonen befinden sollten.
Obwohl ihr Herz von Furcht erfüllt war und ihre Gedanken wie gelähmt schienen, setzte sie sich in Bewegung.
In die Kapelle eindringen, die Schriften stehlen, verschwinden.
Doch tief in ihrem Inneren ahnte sie, dass das nicht so einfach werden würde.